Selbstmitleid

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„Hör schon auf den Mond anzuheulen.", murrte Andrea. Sie schloss die Balkontür hinter sich und gab Jacob ein Bier. „Das ändert auch nichts."

Jacob nickte. Er wusste, dass das nichts änderte. Sie war weg und er war hier, das blieb so - wahrscheinlich. Doch Andreas Kommentar änderte auch nichts. Er wollte nun einmal gerade die Luft anschreien, die Sterne verdecken, den Mond anheulen; ihn am liebsten anflehen: Wenn du so hell scheinst, dann zeig mir doch wo sie hin ist. Gib mir einen Tipp, wenn sie dich gerade auch sieht. Los. Bitte.
Er tat nichts dergleichen. Er weinte nur ohne einen Ton von sich zu geben.

Das Balkongeländer war rostig und kalt. Der weiße Lack war abgeblättert und würde sich noch eine weitere Person hier anlehnen, bräche dieser Haufen Metall ab und alle fielen auf den schwarzen BMW vor der Tür - das schien Jacob einleuchtend.

Andrea trank einen Schluck. „Und du weißt wirklich gar nichts? Keine Nachricht, keine SMS, kein Brief?"

Jacob schüttelte den Kopf. „Gar nichts.", murmelte er. Die Bierflasche hing in seiner Hand und schwankte über dem BMW hin und her. „Und egal wen ich frage, keiner hat die leiseste Ahnung, was passiert ist. Sie hat keinem etwas gesagt."

„Was ist mit ihren Eltern?"

Jacob lachte bitter auf. „Die habe ich nicht vor zu fragen."

„Hm." Andrea zuckte mit den Schultern.

Die Hauptstraße lärmte. Autos knatterten, quietschten, hupten und irgendwo war die Sirene eines Krankenwagens - wurde lauter und lauter. Schließlich fuhr er an ihrer Seitenstraße vorbei, irgendwo hin. Vermutlich hatte sich schon wieder jemand komareif getrunken.

„Ich verstehe es einfach nicht." Er legte den Kopf in den Nacken. Der Mond lachte ihn aus. „Es lief super mit uns, sie hatte sich einigermaßen mit ihren Eltern versöhnt, meine Schwester mochte sie, ihr Bruder mochte mich und du – du mochtest sie doch auch, ich bin vom Stoff einigermaßen losgekommen. Und jetzt?" Jacob seufzte. „Ist sie weg. Einfach so und ich weiß nicht mal warum."

„Ich auch nicht.", meinte Andrea und nahm noch einen Schluck. „Hast du ihre Nummer noch?"

„Was glaubst du, habe ich die letzten Tage gemacht? Sie hat mich blockiert, ihre Nummer geändert, die SIM gesperrt – oder was weiß ich, jedenfalls ist sie unerreichbar."

„Hm."

„Sie ist einfach weg. Und ich will doch nur wissen, was schief gelaufen ist. Es lief doch alles gut – es lief alles gut." Er legte seinen Kopf aufs Geländer und starrte die grüne Bierflasche an. Die raue, kalte Oberfläche kratze ihn am Kinn. Er könnte nicht in Worte fassen, wie egal ihm das war.

„Das sah sie anscheinend anders."

„Anscheinend." Die Flasche in seiner Hand schwankte hin und her. Der Mond reflektierte sich im Glas und Jacob war sich sicher, dass diese Lichtscheibe ganz genau wusste, was sie gerade dachte. Und warum sagst du mir das nicht? Ich bitte dich doch nur, mir einen kleinen Hinweis zu geben. Was war nur das Problem?, wollte er fragen, doch schwieg diese verfluchten Mond nur an.

Andrea legte einen Arm um ihn. „Ich glaube nicht, dass es an dir gelegen hat. Und wenn ich anmerken darf:" Sie löste sich von ihm und lehnte ihren Rücken an das Geländer. „Sie ist hier die Schuldige. Mach dir nicht so einen Kopf um sie."

Jacob fuhr hoch. „Ist sie nicht." Er guckte Andrea entgeistert an. „Hailey ist nicht schuld. Wenn ich eines mit Sicherheit sagen kann, dann das. Sie hat ihre Fehler, die ich nur zu gut kenne." Er schmunzelte. „Sie hat auch ihre Ängste und ihre Probleme. Das weiß ich doch alles. Aber auch wenn sie verschwunden ist, ist sie nicht schuld."

„Und wer dann?" Andrea stellte ihre leere Bierflasche auf den runden Plastiktisch hinter ihr.

Jacob starrte sie an, starrte in den Himmel, auf das Geländer, auf die Fliesen und schließlich blieb er bei seiner vollen Flasche hängen. „Ich weiß nicht. Ich will keinen Schuldigen finden. Das macht doch keinen Sinn." Er nahm die Flasche in seine andere Hand. „Ich will sie finden." Die Flasche rutschte ihm aus den tauben Fingern und zerschlug mit Klirren und Knallen auf dem Dach des schwarzen BMW. „Oh."

Andrea verdrehte die Augen. „Passt schon. Der parkt sowieso immer in der Einfahrt.", grinste sie.

Es war wieder ruhig. Das Bier floss die Seitenfenster runter und klebte sich am Frontfenster fest. Die meisten kleineren Splitter waren zwischen den Scheibenwischern verteilt. Eine besonders große, runde Scherbe schaukelte auf dem Autodach hin und her. Sie glitzerten im Mondschein und färbten das Auto grün.

„Sie wird schon zurückkehren, wenn sie es für angebracht hält.", meinte Andrea schließlich und nahm ihre Bierflasche. „Ich gehe wieder rein. Mir wird kalt." Sie schloss die Glastür hinter sich.

„Und wann wird das sein?", fragte Jacob in die Kälte der Nacht, die plärrenden Autos und die Bierlache hinein.

„Ich weiß nicht wann.", meinte der Mond, schimmerte, lächelte und sah fast schon mitleidig aus. „Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten. Ich kann dir nicht sagen, wo sie ist, wie es ihr geht. Ich kann dir kein Scheinwerfer sein und dir in deinem Selbstmitleid nicht helfen. Ich will es auch gar nicht. Du sollst dich nicht auf mich verlassen, denn du kannst dich nicht auf mich verlassen. Mache alles so gut es geht. Lerne deinen Traumjob, mach weiter, sei glücklich. Sie kommt schon noch zurück zu dir. Und wenn nicht

so bleibt dir die Erinnerung."

Warum ich mein Haus anzündete - KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt