VIER

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Als Nia am nächsten Morgen wach wurde, schmerzte ihr jede einzelne Stelle ihres Körpers. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht wieder anfing zu weinen.

Wie am Tag zuvor blickte sie sich im Raum um und wieder war sie die erste die wach war.

Vorsichtig stand sie auf und wanderte ohne eines der anderen Mädchen zu wecken zu dem kleinen Badezimmer, das zu ihrem Zimmer gehörte. Sie blickte in den Spiegel an der Wand und erkannte sich beinahe selbst nicht mehr.

Das Mädchen im Spiegel hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das sie noch vor ein paar Tagen war. Jetzt war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.

In ihrem Inneren war sie innerhalb dieser kurzer Zeit bereits kaputt gegangen und bevor sie es zurück halten konnte, fing sie wieder an zu weinen. Bevor sie sich allerdings, der Wand entlang herunter gleiten lassen konnte, riss sie sich wieder zusammen.

So schnell sie konnte, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht die Kontrolle über sich selbst verlieren. Sie musste stark bleiben. Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Es war die einzige Möglichkeit zu überleben. Zumindest redete sie sich das ein.

Und für einen einzigen Moment musste sie an einen Augenblick in ihrem Leben zurückdenken, an dem sie das letzte mal wirklich glücklich war.

Damals war sie gerade mal sechs und sass zusammen mit dem Nachbars Jungen in ihrem Garten. Egal wie sehr sie auch versuchte sich an seinen Namen zu erinnern, so gelange es ihr dennoch nicht. Doch sie wusste noch, wie sie zusammen ungezwungen lachen konnten. Ohne das sie etwas von den Problemen in der Welt mitbekamen.

Eine letzte Träne lief Nia über die Wange und sie wischte sie nicht weg, sondern lies sie trocknen.

Es war nicht einfach die letzte Träne für die nächste Stunde oder den ganzen Tag. Nein ... Es war die letzte Träne für eine weit aus längere Zeit. Es hielt Wochen, Monate, ein ganzes Jahr an bis sie wieder eine Träne vergoss.

Langsamen Schrittes lief sie zurück ins Zimmer. Inzwischen waren einige der Mädchen wach, doch sie schienen sie gar nicht zu bemerken. Neben Lucy und Jackie lies sie sich nieder. Die beiden sahen sie nur einen Moment an, aber sie stellten keine Fragen. Fragten nicht, was sie gemacht hatte. Fragten nicht, ob es ihr besser ging. Fragten nicht, was ihr gerade durch den Kopf ging. Die Antworten darauf hatten sie nämlich schon selber durchlebt und es war leichter, wenn man es nicht ansprach. Es nicht wahr werden lies.

Ein weiteres Mal lies Nia ihren Blick durch den Raum gleiten und dieses Mal sah sie die Mädchen wirklich. Sah ihren Schmerz, ihre Angst, ihre Verletzlichkeit. Denn jetzt war sie nicht mehr länger die Neue. Nicht mehr länger das Mädchen, das nicht verstand, was hier alles los war und passieren konnte.

Nein.

Jetzt war sie eine von ihnen. Jetzt fühlte sie denselben Schmerz, dieselbe Angst und dieselbe Verletzlichkeit.

Sie war nicht mehr länger eine Fremde unter lauter Opfern. Sie war selber eines geworden.

-

Red, der in seinem Zimmer auf und ab ging, war bereits seit Stunden wach. Eigentlich hatte er keine Sekunde lang die Augen zu machen können. Zum ersten Mal konnte er nicht schlafen.

Er schloss die Augen und blieb stehen. Was war bloss los mit ihm? Er verstand es einfach nicht. Das war etwas vollkommen neues für ihn. Etwas, das er noch nie im Leben gefühlt hatte.

In dem Moment, in dem er sich auf sein Bett fallen lassen wollte, klopfte jemand an seiner Zimmertür. Nur eine Sekunde später betrat Pacho das Zimmer. Er sah seinen Boss fragend an.

"Alles in Ordnung, Red? Du scheinst etwas blass zu sein."

Auf der Stelle hatte Red sich wieder unter Kontrolle und sah Pacho wütend an.

"Blass?! Du meinst, ich bin blass?! Und? Was ist das Problem?! Was willst du überhaupt von mir!?"

Ohne zu zögern wich Pacho zurück. Es war so peinlich. Peinlich, wie viel Angst Red ihm einjagen konnte.

"Ich ... ich wollte fragen, ob ich sie losschicken soll. Um ... ne Neue zu suchen."

Red musste für einen Moment überlegen, damit er auch ja nichts falsches sagte. Er atmete einmal tief durch, ehe er Pacho antwortete.

"Ja. Schick die drei Trottel los! Es wird sowieso wieder einmal Zeit, das wir eine los werden."

Pacho runzelte die Stirn.

"Aber ... die letzte starb erst gestern."

Red hatte ihm gerade den Rücken zugekehrt und drehte sich auf der Stelle wieder zu ihm um.

"Und? Problem damit? Und jetzt schick sie los! Und mach die Mädchen für eine weitere Wahl bereit!"

Pacho blieb für einen Moment wie angewurzelt stehen. So hatte er Red noch nie erlebt. So Blutrünstig.

Er nickte bloss und verliess Reds Zimmer, doch er vergass, die Tür hinter sich zu schliessen. Red sah zur Tür und aus einem ihm unerklärlichen Grund, kroch heisse, blanke Wut in ihm hoch. Mit einem lauten Krachen warf er die Tür ins Schloss.

Im Zimmer neben an zuckte jeder einzelne der Jungs zusammen. Pacho schluckte einmal stark und zeigte dann auf Trash, Major und Beal.

"Ihr drei! Los! Holt ne Neue. Red hat sein okay gegeben!"

Die drei nickten und machten sich sofort auf den Weg. Pacho liess sich daraufhin aufs Sofa fallen und starrte einfach nur ins Leere. Zip sass neben ihm und sah ihn fragend an.

"Alles in Ordnung?"

Pacho schüttelte den Kopf und stand sofort wieder auf.

"Keine Ahnung. Irgend ... Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich weiss zwar nicht genau was es ist, aber etwas stimmt ganz bestimmt nicht. Er ist total unruhig und geht andauernd auf und ab. Irgendetwas liegt da im Busch, aber was?"

Zip zuckte mit den Schultern.

"Woher soll ich das denn bitteschön wissen? Mich bringt er immerhin jedes Mal beinahe um, wenn er mich zu sich ruft. Also bin ich wohl ein schlechter Ansprechpartner, was das anbelangt."

Pacho nickte und sah in die Flamme  des Feuers, das gerade in dem kleinen Kamin brannte. Das würde ganz bestimmt nicht gut enden, ging es ihm durch den Kopf. Nein, es würde nicht gut enden.

Nur wieso nicht und was genau schief gehen sollte, wusste noch keiner. 

MONSTERS - Let The Game BeginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt