78: Die Kiss-Cam

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Askja:
Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass mir gegenüber mein leiblicher Vater sitzt, den ich fünfzehn Jahre lang nicht kennengelernt hatte. Er war mir einerseits fremd, andererseits auf eine besondere Art und Weise doch sehr nahe. Wir saßen schweigend in einem kleinen Café nicht weit von der Kieler Sparkassen Arena entfernt. Es war sechszehn Uhr, noch drei Stunden bis zum Anpfiff des Spiels. Ich war irgendwie nervös und in diesem Moment wünschte ich mir, dass Gisli hier wäre. Ich wusste einfach nicht wo ich anfangen sollte, obwohl es so viele Fragen gab, die mich beschäftigten. Wieso er mich abgegeben hat? Wieso er und mein Adoptivvater zerstritten sind? Wieso er sich kein einziges Mal nach mir erkundigt hat? Aber trotzdem konnte ich diese Fragen einfach nicht aussprechen. Es war als hätte es mir die Sprache verschlagen. „Askja", machte er jetzt den Anfang und ich spürte wie schwer es ihm viel, seine Gefühle zu überspiele. Ich spürte wie er gegen die Tränen ankämpfte. „Dir müssen doch so viele Fragen durch den Kopf gehen, wieso ich das getan habe; ob ich dich jemals geliebt habe, ob du mir überhaupt was bedeutet hast", begann er aufzuzählen. Wir sprach auf Englisch, auch wenn ich seinen Akzent irgendwie niedlich fand. Ich nickte zaghaft. Ich konnte einfach immer noch nicht sprechen. Ob das an der Nervosität liegt? Oder doch der Tatsache geschuldet ist, dass ich hier meinem Vater gegenüber sitze? „Ich will, dass du weißt, dass kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht an dich gedacht habe und meine damalige Entscheidung bereut habe. Auch wenn ich weiß, dass es die Beste gewesen ist, es fühlt sich nicht so an", fuhr er fort. Dann herrschte erstmal wieder schweigen. Ich dachte über seine gesagten Worte nach. Ich kannte ihn nicht. Ich wusste nicht ob er es ernst meinte, aber ich spürte, dass das Gesagte vom Herzen kam. Ich atmete tief durch. „Wann hast du es erfahren?", wollte er dann nach einiger Zeit wissen. „Vor ein paar Wochen. Mein Vater hat es mir erklärt", antwortete ich und stockte bei dem Wort Vater. Ist es ihm unfair gegenüber meinen nicht leiblichen Vater als meinen Vater zu bezeichnen? „Ich habe oft überlegt ihn anzurufen und ihn darum zu bitten, dass wir es euch sagen, aber ich konnte nicht. Ich wollte dein Leben nicht zerstören", erklärte er. „Das hab ich schon selbst zerstört", seufzte ich und trank einen Schluck Kakao. Ich spürte wie ich gegen die Tränen ankämpfte, weil ich wieder an heute Mittag denken musste. Als die beiden vor mir standen und so unerreichbar schienen. Ich spürte wieder diesen hilflosen und traurigen Blick von Luke. Ich spürte wie es förmlich mein Herz zerriss. War es das wirklich wert gewesen? Ich spürte auf einmal wie seine Hand sich auf mein Hand legte. „Ist da irgendwas was dich bedrückt. Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich bin dein Vater. Wenn dich also was bedrückt, kannst du es mir gerne sagen, wenn du es möchtest", bot er an und lächelte mir aufmunternd zu. Und dann schien meine Fassade zu bröckeln. Ich begann langsam zu erzählen. Die ganze Geschichte von vorne. Von dem Zeitpunkt an, als wir nach Kiel gekommen sind. Er saß mir schweigend gegenüber, hörte aufmerksam zu und seine Hand lag immer noch auf meinem Handgelenk. Gegen Ende überrollten mich dann völlig die Gefühle. Mir schossen die Tränen förmlich über die Wange. Ich fühlte mich so schwach, so hilflos. Ich musste einen erbärmlichen Eindruck machen. Was denkt er nun von mir? Ich hatte mir unser erstes Treffen auch anders vorgestellt. Ich wollte mich darauf vorbereiten. Doch vorhin in der Halle wurde ich so überraschte, als er vor mir stand. Wie er mich dann wortlos in seinen Arm genommen hat. Ich hatte mich so geborgen gefühlt, wie seit lange nicht mehr. Ich hätte ihn ewig umarmen können. Die ganzen fünfzehn Jahre hätte ich nachholen können. Doch jetzt saß ich vor ihm, hatte ihm alle meine Sorgen gesagt und fühlte mich so hilflos. Auf einmal spürte ich wie sich zwei starke Arme um mich legten. Ich vergrub meinem Kopf in seinem T-Shirt und schluchzte laut los. Mir war egal, was die anderen Cafe Besucher gerade dachten. Ich konnte nichts für meine Gefühle, die mich gerade einfach überrollt hatten. Ich wusste nicht was der Auslöser gewesen ist. Die Freude, dass ich ihn jetzt endlich gefunden hatte, die ganzen Sorgen die mich die letzten Wochen geplagt hatten oder einfach alles auf einmal. Doch eins wusste ich, dass ich ihn jetzt endlich gefunden hatte. Auch wenn mir dieser Mann vielleicht noch fremd war, da ich ihn erst seit wenige Stunden kannte. Mein Herz sagte was anders. Es fühlte sich so an, als würde ich ihn schon ewig kennen. Ich wusste einfach, dass er es war. Er war mein Vater, denn es gab da diese tiefe Verbundenheit, die ich bei ihm nie gefühlt hatte. Auch wenn seine Umarmungen nie so fremd gewesen sind, wie diese, fühlte ich mich in seinen Armen geborgener. Auch wenn ich diese tiefe Sehnsucht nach ihm hatte. Nachdem der mich fünfzehn Jahre lang großgezogen hat. Der sich um mich gekümmert hat. Der mir das Sprechen, das Laufen und das Fahrradfahren beigebracht hat. Der mir auf die Beine geholfen hat, wenn ich hingefallen bin. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, was wir alles verpasst hatten. Wie viel Zeit verloren gegangen ist, die wir nie wieder aufholen konnten. „Askja es tut mir leid, dass ich nicht für dich da gewesen bin, obwohl du mich gebraucht hättest", flüsterte er mir ins Ohr. „Können wir bitte eins beschließen", begann ich schließlich. Wir lösten uns und er schaute mir mit diesen kastanienbraunen Augen direkt in die Augen. Das waren seine Augen. Ich hatte seine Augen geerbt. „Können wir die Vergangenheit vergessen und nicht die Zeit, die uns jetzt noch zusammen bleibt, mit Vergangenem verschwenden, was wir eh nicht mehr rückgängig machen können", fragte ich vorsichtig. „Du hast Recht, wir sollten unsere Zeit nicht mit solchen Dingen verschwenden", stimmte er mir zu. Ich streckte ihm meine Hand hin. „Also Deal?", fragte ich. Er lachte griff nach meiner Hand und antwortete „Deal". Und so war es beschlossen. Das Vergangene war vergessen, das einzige was jetzt zählte war die Zukunft. Wir tranken unseren Kaffee, beziehungsweise in meinem Fall Kakao aus, redeten noch etwas über allgemeine Dinge. Er wollte so einige über mich wissen und ich über ihn. Um 17 Uhr bezahlte er dann und wir verließen das Restaurant Richtung Sparkassen Arena. Ich war nervös, weil ich nicht wusste was mich dort jetzt erwarten würde. Doch eins konnte ich mit Garantie sagen: Meine Erwartungen werden übertroffen werden!

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