Ein Wort In Der Nacht

171 9 0
                                    

Der erste Durchbruch gelang mir dann nach einigen Wochen.

Es war Nacht und ich lag wie gewohnt in meinem Bett im Krankenzimmer. Und da ich nicht schlafen konnte, begann ich, über mein Leben zu philosophieren. Das tat ich in letzter Zeit oft. Einmal, weil ich einfach massiv Zeit zum Nachdenken hatte, aber vor allem, weil ich viel verarbeiten musste.

In den letzten Wochen, so bemerkte ich, hatte ich mich erstaunlich gut im Krankenhaus eingelebt. Ich glaube, besonders zu verdanken hatte ich dies den Menschen mit denen ich zu tun hatte. Pfleger, Ärzte und Therapeuten waren meist wirklich nett zu mir und kümmerten sich gut um mich. Das machte Vieles einfacher.

Durch die vielen Bemühungen von allen Seiten klappte. nun endlich auch meine Übungen immer besser (Ich konnte meinen Arm schon ein wenig anheben und meine Finger erwachten auch so langsam aus ihrer Starre).

Alles in allem konnte man sagen, dass sich eine Art Alltag bei mir eingestellt hatte.

Trotzdem war da immer noch oft diese Traurigkeit in mir, die ich mir gar nicht wirklich erklären konnte. Ich glaube, vor allem machte mir meine Lähmung zu schaffen. Durch das ständige Nichtstun fühlte ich mich so... eingeengt. Ich hatte das Gefühl, gefangen zu sein und mich nicht entfalten zu können. Bei interessanten Gesprächen konnte ich nie meine Meinung sagen, wenn mir ein Songtext oder eine andere kreative Idee in den Kopf kam, konnte ich sie nie festhalten und egal, wie ich mich gerade fühlte, niemand konnte es wissen.

Ich konnte nicht ich sein. Ich konnte nicht tun, was ich tun wollte, nicht sagen, was ich sagen wollte und nicht sein, wer ich sein wollte. Das war es, was mich quälte.

Eine Weile noch grübelte ich über diese düsteren Seiten meiner Situation nach, dann schwiffen meine Gedanken zu einer anderen Erkenntnis, die ich letztens gemacht hatte: Meine Haare waren kurz.

Zwar hatte ich mich bisher noch nicht selbst gesehen, aber das Gefühl in meinem Kopf war inzwischen vollständig zurückgekehrt und so konnte ich es spüren. Meine Haare schienen einfach einheitlich auf eine viel zu kurze Länge rasiert worden zu sein und ich hatte das Gefühl, nur  winzige, stachelige Stoppeln seinen übrig. In meiner Vorstellung musste das schrecklich aussehen. Wie bei einem Gefängnisinsassen.

Mich nervte das gewaltig, denn früher hatte ich meine Haare lang und bunt getragen. Das war eine Art von mir, mich auszuprobieren und mein Inneres auszuleben und es sah meiner Meinung nach noch dazu ziemlich cool aus. Und so nahm ich mir jetzt vor, mich ab sofort gegen jegliches Haareschneiden zu wehren.

Während ich noch so nachdachte, begann ich unterbewusst, Grimassen zu ziehen. Irgendwie hatte ich es mir in letzter Zeit angewöhnt, in jeder freien Minute mein Gesicht zu verziehen... Stärkung der Muskeln und so. Das Ganze klappte sogar inzwischen wirklich gut und mein Gesicht war inzwischen in der Lage, sich zu den wildesten Grimassen verzerren und verziehen zu lassen. Das war ein toller Erfolg, auch, wenn es zugegebenermaßen oft ziemlich bescheuert aussah. Schmunzelnd musste ich daran denken, wie Toni sich des Öfteren über meine Grimassen kaputt gelacht hatte. Ich mochte sein Lachen sehr.

So lustig sie auch waren, die Grimassen hatten mich meinem Ziel, dem Sprechen, große Schritte näher gebracht. Nur das mit dem starken und kontrollierten Atem hatte ich irgendwie noch nicht drin.

Testweise versuchte ich nun auch dies, als mir plötzlich tatsächlich ein Laut über die Lippen kam. Ich erschreckte mich erst einmal vor mir selbst, da ich das überhaupt nicht erwartet hatte, versuchte es dann aber schnell erneut und zu meiner Überraschung konnte man wieder eindeutig meine Stimme hören.

Triumphierend lächelte ich und probierte es direkt nochmal. Meine Stimme hörte sich ungewohnt heiser an, außerdem war sie noch sehr leise und kraftlos, doch ich merkte fasziniert, wie ich den Klang beeinflussen konnte. Wie ein kleines Kind spielte ich nun mit meiner eigenen Stimme. Ich machte mal lautere Töne, mal leisere, öffnete den Mund mal mehr oder legte meine Zunge anders und beobachtete begeistert, wie Tom und Klang meiner Stimme darauf reagierten. Jeder hätte mich dabei für verrückt gehalten und es war sicher auch ein sehr seltsames Bild, wie ich da einsam in meinem Bett lag und vor mich hin brabbelte, aber für mich war dieser Moment Spaß, Faszination und Freude pur.

Nun wagte ich mich an die ersten Buchstaben. Konzentriert probierte ich ein A aus, dann ein O. Es war nicht einfach, aber es klappte. Schwieriger waren dann die abgehackten Laute, wie T oder P, welche mir irgendwie nicht richtig gelingen wollten.

Doch jetzt gab ich nicht mehr auf. Mehrmals versuchte ich, das ganze Alphabet aufzusagen. Einige Buchstaben machten mir Probleme, aber das meiste klang passabel und so versuchte ich mich an einfachen Wörtern. "A...m...-A...u...f...-O...m...a.."
Es war super anstrengend, aber das ignorierte ich. Der Knoten schien endlich geplatzt.

Und so wagte ich mich schließlich an das besondere Wort. Das Wort, das ich unbedingt sagen können wollte.

"T... O... N... I... "

Das T war sehr schwer und ich stotterte ein wenig beim Aussprechen des Wortes, aber man konnte es verstehen.

Toni...

Ich hatte seinen Namen gesagt. Morgen würde ich das erste Mal mit ihm reden und er hatte keine Ahnung, dass ich das ich das überhaupt ansatzweise konnte. Mein Herz hüpfte bei dem Gedanken.

Und mit einem seligen Gefühl im Bauch und einem Lächeln auf den Lippen schlief ich schließlich ein.

You Restore Me - Tonia Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt