Ein Rollstuhl Für Nia

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Und dann war plötzlich schon wieder Morgen die nächste Session stand an.

Mir war sehr mulmig zumute, als ich abgeholt wurde und als ich schließlich die großen Türen des "Labors" sah, packte mich die Angst. Doch ich biss einmal wieder die Zähne zusammen und ließ es über mich ergehen.

Vom Ablauf her war es so ziemlich wie gestern, nur dass es logischerweise nicht nochmal nötig war, mich zu tätowieren.
Insgesamt war die Prozedur zwar wieder alles andere als schön, aber zumindest weniger furchteinflößend, als beim ersten Mal, weil ich wusste, was kommt.

Mein Problem war wieder Doktor Lee und seine Mitarbeiter. Sie waren so unfreundlich und so auf ihre Arbeit fixiert. Ich fühlte mich, als existiere ich nicht für sie und irgendwie tat das weh. Ich glaube, das ist menschlich. Menschen wollen wenigstens gesehen werden.

Nach endlosen Stunden war es aber dann endlich vorbei und ich wurde erleichtert hochgebracht.

Wieder fühlte ich mich extrem schwach, doch ein wenig besser, als gestern.

Ich ruhte mich aus, zockte sogar ein bisschen und dachte nach. Ich war froh, dass es wohl bei der Röhre und dem Rumliegen bleiben würde, aber keine Ahnung, ob ich das trotzdem weiter durchziehen wollte. Ich fühlte mich einfach unwohl da und das endlose Warten fühlte sich an wie verschwendete Zeit.

Schließlich klopfte es an der Tür und Ju steckte seinen Kopf hinein.

"Hi", sagte er und lächelte mich an.

"Hey Ju", antwortete ich. Ich freute mich, ihn zu sehen.

Ju trat einen Schritt in mein Zimmer. "Hör zu: Ich wollte dir nur  sagen, dass der Physioplan geändert wurde. Du sollst ab jetzt noch dreimal die Woche zu mir und Anni", meinte er.

Ich konnte nur schwach nicken. Im Moment war mir so gar nicht nach Physiotherapie.

Gerade machte sich Ju zum Gehen auf, da fiel mir plötzlich etwas ein.

"Ju?", rief ich ihm hinterher und er drehte sich um und hob fragend die Augenbrauen.

"Ähm", setzte ich an, "gehören Rollstühle eigentlich in deinen Aufgabenbereich?"

Ju grinste. "Naja mehr oder weniger. Warum?"

"Mir wurde gesagt, dass ich vielleicht einen haben könnte..."

Man konnte geradezu auf Jus Gesicht mitlesen, wie es in ihm ratterte, doch dann erhob er in einem Geistesblitz seinen Finger.

"Aaah", machte er und zwinkerte mir zu. "Alles klar, ich kümmer mich drum."

Sofort wurde mir ein wenig wärmer. "Danke", sagte ich aus vollem Herzen.

Ju grinste nur und verschwand.

Tja und auf Ju kann man sich einfach verlassen. Am nächsten Tag hatte ich nämlich zum Glück frei von der Behandlung mit Lee und musste nur zur Physio. Ich wurde gerade in meinem Bett in den entsprechenden Raum geschoben, da entdeckte ich ihn schon: Den Rollstuhl. Und Anni, die darauf saß, als wäre es ihr Fernsehsessel und über beide Ohren grinste. Ju stand daneben und als er mich sah kam er auf mich zu und begrüßte mich mit einem Handschlag.

"Tadaa", rief er in einem Singsang und deutete mit beiden Händen auf den Rollstuhl, während Anni eine Pose machte.

"Darf ich vorstellen? Rollercoaster XX, dein neuer Rollstuhl. Das neuste und beste Modell, das dieses Krankenhaus zu bieten hat."

Ich konnte nicht anders, als zu grinsen, während Anni aufstand und den "Rollervcoaster XX" auf mich zuschob. Naja. Der Name war wohl ziemlich übertrieben, denn das hier war einfach ein normaler, hässlicher Krankenhausrollstuhl. Aber egal. Ich würde auch ein Fass aus dem 17. Jahrhundert als Rollstuhl nehmen, hauptsache, es erfüllte seinen Zweck.

"Bist du bereit?", fragte Anni.

"Sowasvon", antwortete ich enthusiastisch.

"Okay", meinte Ju und betrachtete erst mich, dann den Rollstuhl. "Eigentlich sollte es gar keine Probleme geben, der TMB hat ja bestätigt, dass du genug Kraft hast. Ich frage mich sowieso, warum nicht schon lange die Order von oben kam, dass wir das hier machen...", sagte er mehr zu sich selbst.

Dann schaute er zu mir. "Wir helfen dir erstmal rein."

Gesagt, getan. Ich setzte mich auf und drehte mich an den Rand des Bettes, dann packten mich Ju und Anni jeweils von einer Seite und wuchteten mich in den Rollstuhl.

Es war ein seltsames Gefühl und erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht mehr in etwas Stuhlartigem gesessen hatte, seit ich aus dem Koma aufgewacht war. Es waren immer Betten oder Liegen oder so etwas gewesen, aber nie Stühle.

Ungewohnt, aber schön. Schön normal.

Wie von selbst legte ich meine Hände auf die Rollen rechts und links. "Du musst da und da greifen", half Anni mir sofort und legte meine Hände in die richtigen Positionen.

Ich bedankte mich halbherzig und konzentrierts mich voll auf das Gerät unter mir. Testweise begann ich, langsam die Räder nach vorne zu bewegen. Und tatsächlich: Der Rollstuhl rollte vorwärts. Ein Glücksgefühl schoss mir durch den ganzen Körper und ich schaute grinsend zu Anni und Ju hoch.

Ich probierte es weiter. Vor, zurück und auch rechts und links. Es stellte sich als gar nicht so einfach heraus, wie es vielleicht aussieht, aber mich hatte das Feuer gepackt und so kurvte ich eifrig durch den Raum.

"Okay ich glaube, es wird Zeit, dass wir dich richtig fit machen", sagte Ju nach einiger Zeit und lotste mich auf den Gang.

Nun begannen wir eine Tour durchs Krankenhaus. Ju war der Boss und stellte mir verschiedenste Aufgaben: Slalom fahren, um die Ecke fahren, rückwärts um die Ecke und so weiter und ich gab mein Bestes, um das auszuführen. Es machte riesigen Spaß und für einige Zeit waren sogar alle Sorgen um Dr. Lee und die Stromtherapie vergessen.

Als die Stunde schließlich vorüber war und wir wieder im Physioraum waren, waren sowohl Ju, als auch ich ziemlich fertig. Aber glücklich.

"Darf ich den jetzt eigentlich behalten?", fragte ich schließlich und tätschelte liebevoll den Rollercoaster.

"Ja klar", antwortete Ju, "Zumindest solange du hier bist."

Freude durchfuhr mich.

"Okay", sagte ich glücklich, "jetzt muss ich nur noch eins wissen: Weißt du, wo ich Toni finde?"

Ein breites, wissendes Grinsen zog sich über Jus Gesicht. "Soll ich dich hinbringen?", fragte er, doch ich schüttelte entschieden den Kopf.

"Ich schaff das schon selbst", sagte ich stolz und deutete auf meinen fahrbaren Untersatz, "Ich brauch nur eine Wegbeschreibung."

Ju lachte und schrieb mir einen Zettel.

"Verfahr dich nicht", rief er mir noch hinterher, als ich mich umdrehte.

Doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich und verfahren? Niemals.

You Restore Me - Tonia Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt