Kapitel 10

59 4 0
                                    

Tai ließ sich auf einen großen flachen Stein fallen, der mit vielen anderen Felsen einen durch den Garten fließenden Fluss begrenzte. Ein schweres Seufzen entfuhr ihm dabei.

Er stützte sich auf die eine Hand, fühlte dabei die glatte Oberfläche des Steins, und ließ die andere – natürlich die ohne Handschuh – durch das Wasser gleiten. Es war glasklar und er konnte die vielen bunten Kiesel auf dem Flussbett sehen.

Das stetige Plätschern war das einzige, was an seine Ohren drang. Seine Augen schlossen sich langsam immer weiter und waren schon fast ganz zu, als Ziya ihn mit einem langgezogenen »Hey« aus seinem schläfrigen Zustand heraus holte. Größtenteils zumindest.

Aria hatte nicht damit gelogen, dass Ziya schnell das unbeholfene Verhalten ihm gegenüber ablegen und sein wahres Ich zeigen würde. In den letzten Tagen hing er wie eine Klette an ihm. Eine sehr, sehr hartnäckige Klette. Deswegen saß er auch jetzt wieder neben ihm. Seine Beine ließ Ziya vom Flusswasser umspülen, mitsamt der langen Hose, die er nicht hochgekrempelt hatte. Wenigstens trug er keine Socken oder Schuhe.

Tai fuhr sich mit der kalten und tropfenden Hand über sein Gesicht – ein Versuch, die restliche Trägheit los zu werden. Es funktionierte mit eher mäßigem Erfolg.

»Du bist in letzter Zeit immer so müde«, stellte Ziya fest. »So warst du die ersten paar Male nicht, als du hier warst.«

»Ja?«, fragte sich Tai selbst, immer noch ein bisschen benommen und mit unklaren Gedanken. Dann schüttelte er den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren. »Ach ja, das kann sein. Ich glaub es ist das Licht.«

»Wie meinst du das?«

»Die Helligkeit. Hier ist es fast immer hell, draußen und drinnen. Ich glaub, das macht meinem Körper etwas zu schaffen. Bei mir zu Hause gibt es ... etwas weniger Licht.« Das war noch untertrieben, dachte Tai, als er sich die schwach leuchtenden Blumen ins Gedächtnis rief, welche die einzige Lichtquelle in seinem Schloss waren.

Ziya lachte vor sich hin und beugte sich vor, um Tai ins Gesicht sehen zu können. »Dann müsstest du dich ja eigentlich von mir fern halten.« Auf Tais verständnislose Mimik hin erklärte er: »Ich strahle auch Licht aus und mache das damit noch schlimmer.« Er stützte den Kopf auf die Hände und bewegte die Füße im Wasser.

»Nein, dein Leuchten stört mich nicht. Es sieht schön aus«, meinte er und erwiderte Ziyas Blick. »Und passt zu dir.« Das goldene Licht war nicht blendend, aber kräftiger als das blasse gelblich-silberne Licht, das von Tai ausging. Es spiegelte Ziyas Charakter perfekt wider.

Ziya wendete sich mit einem Lächeln auf den Lippen ab und blickte abwesend auf die sich kräuselnde und gluckernde Wasseroberfläche. »Deins sieht auch schön aus.« Dann fügte er hinzu: »Aber passt nicht zu deinem dunklen Image

Tai schnaubte belustigt und hob eine Augenbraue. »Dunkles Image...?«

»Ja! Dunkle Haare, dunkle Klamotten, dunkle Ausstrahlung-«

»Okay, okay...«, wurde er unterbrochen. »Aber das letzte? So dunkel ist meine Ausstrahlung auch wieder nicht.«

»Das wirkt bestimmt nur so, durch das Licht«, neckte Ziya ihn weiter.

Tai schüttelte den Kopf und fühlte sich gerade ein wenig an Mini erinnert, die ihn auch gern mal aufzog. Aber sie warf ihm dümmere Dinge gegen den Kopf.

Als das Gespräch zum Erliegen kam, schlich sich erneut Müdigkeit in seinen Kopf und seine Augen fingen an zu brennen. »Gibt es hier vielleicht irgendeinen Ort, der nicht ganz so hell ist?«

Ziya schwankte sacht hin und her und schien angestrengt zu überlegen. »Hm, nicht direkt... Aber das werd ich schon hinbekommen!«



Ziya führte ihn enthusiastisch und überzeugt von seiner Idee durch den Palast, gefühlte hundert Treppen hinauf, in einen der himmelhohen Türme. Je weiter sie kamen, desto weniger Personen konnte Tai entdecken.

Vor einer Tür in einem der abgelegensten Winkel des Palastes blieben sie stehen. Ziya öffnete die Tür und sie betraten den Raum dahinter. Er sah nicht anders aus, als das restliche Gebäude – hohe Decke, gepolsterte Sofas und Stühle, ein Glastisch, allerlei Einrichtungsaccessoires, und leider war er auch genau so hell.

Ziya lief schnell zu den großen Fenstern und schloss zuerst die bodenlangen Vorhänge. Das hatte aber keinen erwähnenswerten Effekt, denn es war noch genau so hell wie vorher.

Dann stellte er sich in die Mitte des Raums und hob konzentriert beide Arme, die Handflächen wendete er vom Körper ab.

Aus den Wänden, der Decke und dem Boden drangen daraufhin seltsame leuchtende und sich windende Fäden, wie flüssiges Licht. Sie liefen zusammen und bildeten dickere Stränge, die sich langsam auf Ziyas Hände zubewegten und schließlich in ihnen verschwanden.

Tai konnte beobachten wie die Ränder der Wände dunkler wurden. Stück für Stück entzog Ziya dem Raum das Licht und nahm es in sich auf.

Die letzten Enden der Lichtfäden versiegten in Ziyas Handflächen. Nun waren sie beide in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt, zumindest fast – durch ihr Leuchten konnten sie sich gegenseitig immer noch sehen.

Tai ließ überwältigt die Finsternis auf ihn wirken. Er hatte sie vermisst, auch wenn er nur eine vergleichsweise kurze Zeit von ihr getrennt war.

Kleine leuchtende Punkte erschienen dann plötzlich an Ziyas Händen. Die Lichtfünkchen sprühten aus seinen Fingerspitzen und flogen tanzend, einer nach dem anderen an die Zimmerdecke und kamen dort zur Ruhe. Tai bekam den Eindruck, als stünde er unter einem Sternenhimmel.

Durch die Lichtfunken war es gerade hell genug, dass sie sich bewegen konnten, ohne das Risiko, gegen Möbelstücke zu laufen oder über etwas zu stolpern. Tai war sehr dankbar dafür, das hätte sonst blamabel enden können.

Ziya senkte zufrieden grinsend die Arme und ließ sich auf das Sofa neben ihm fallen. Im Schneidersitz sitzend klopfte er erwartungsvoll auf das leere Polster vor ihm und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Armlehne.

Tai kam der Einladung nach und bahnte sich vorsichtig seinen Weg zu Ziya. »Ich bin ... beeindruckt. Lichtmagie ist wie für dich geschaffen.«

»Kleinigkeit«, meinte Ziya nur, strahlte ihn aber nichtdestotrotz stolz an.

Das Gold seiner Augen stach noch mehr als sonst hervor und war fest auf Tai gerichtet. Sie waren fesselnd, und Tai brauchte einen Augenblick, um sich blinzelnd los zu reißen und seine angespannten Muskeln zu lockern. Da fiel ihm etwas ein. »Weißt du, mein Licht ist im Dunkeln stärker, als im Hellen.« Einer der Gründe, warum es im Mondreich immer dunkel war.

»Hab ich mir schon gedacht, bei mir ist es nämlich genau anders rum!« Ziya freute sich sichtlich über die Bestätigung seiner Theorie. »Zeigst du es mir mal?«

Tai nickte. Er war überrascht, dass der Sonnengott nicht schon viel früher danach gefragt hat, wo er doch sonst immer so neugierig ist. Mental hatte er sich schon lang darauf eingestellt und überlegt, was er ihm vorführen konnte. Etwas Kleines würde reichen, hatte er beschlossen, da man Ziya sehr einfach begeistern konnte.

Für das, was er vorhatte, musste Tai sich nicht sehr konzentrieren. Der Trick war so schön, wie er simpel war. Die Hand ohne Handschuh ballte er zu einer lockeren Faust und öffnete sie dann wieder in einer schwingenden Geste. Silbernes Licht entsprang dem Nichts über seiner Hand und setzte sich in Form einer verschnörkelten Ranke nach oben fort. Immer mehr Stränge zweigten sich ab und kräuselten sich, und schon bald schwebte eine hohe Lichtfigur im Raum, die nicht still stand, sondern fließend wirkte.

Tai drehte den Kopf und sah zu Ziya. Wie erwartet waren seine strahlenden Augen weit aufgerissen und sein offener Mund formte ein O. Tai vermutete, dass dieser Trick nicht neu für den Sonnengott war und er selbst wahrscheinlich das gleiche konnte. Dass Ziya trotzdem so reagierte, als hätte er so etwas zum ersten Mal gesehen, ließ Tai versonnen lächeln.

Silver Light [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt