Kapitel 17

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Tai stand dicht vor dem Portal und ließ unsicher den Blick über das Abbild des Sonnenpalasts gleiten. Er dachte an das erste Mal, als er zum Sonnenreich gereist ist. Damals fühlte er sich genauso ängstlich und nervös wie jetzt.

Ziyas Buch hielt er fest umklammert. Diesmal würde er es wirklich wieder bekommen.

Tai ging einen Schritt nach vorn, durch das Portal hindurch.

Einen winzigen Augenblick später stand er im Sonnenpalast. Die Helligkeit stach in seinen Augen und er blinzelte heftig, um sich wieder daran zu gewöhnen.

Nun, da er wieder vernünftig sehen konnte, trugen ihn seine Beine zur Tür. Jetzt musste er nur noch irgendwie Ziya finden. Und dann ... nun ja, irgendwie mit ihm reden.

Der Gang war außergewöhnlich leer. Hoffentlich war Tai nicht zu einer ungünstigen Zeit gekommen, in der besonders viele Anfragen an Ziya ankamen und er komplett von seiner Pflichten eingenommen war.



Mit jeder verstreichenden Minute, in der ihm niemand über den Weg lief, wurde er nervöser. Das Buch wanderte ständig von seiner linken in die rechte Hand und wieder zurück, bis er so genervt davon war, dass es einfach mit beiden Händen hielt. Und im Endeffekt trommelte er immer wieder mit den Fingerkuppen auf dem festen und abgegriffenen Buchumschlag herum, was die Sache auch nicht besser machte.

Tais Schritte waren schnell, er war nur ein wenig davon entfernt, zu laufen.

Er kam zur nächsten Ecke, sah sich in alle Richtungen um, aber - Überraschung - erneut war Niemand zu entdecken. Frustriert seufzte er und fuhr sich mit der behandschuhten Hand über Gesicht und durch die Haare.

In seinem Kopf sammelten und drehten sich immer mehr Gedanken darüber, wie die ganze Sache ausgehen könnte, wie Ziya reagieren würde, ob er überhaupt bereit dazu war, diesen Streit zu beenden. Und je mehr Gedanken es wurden, desto schlimmer wurde es und desto weniger bereit fühlte er sich für die Konfrontation.

Konnte es nicht einmal einfach sein?

Tai ging weiter, drehte sich einmal und sah sich die Flure an, die er zur Auswahl hatte. Er überlegte nicht lang und nahm einfach den, der mehr Abzweigungen hatte. Vielleicht würde er ihn dort sehen?

Garten!, schoss es ihm durch den Kopf, als den Gang entlang hastete, aber er verwarf den Gedanken kopfschüttelnd wieder. Er hatte das Gefühl, als wäre Ziya dort nicht. Stattdessen hatte er eine andere Idee. Sofort suchte er nach der nächstgelegenen Treppe.



Tai stand vor der Tür eines Raums in einem der Türme. Nicht irgendein Raum, sonder der, dem Ziya vor einiger Zeit das Licht entzogen hat und ihn dann mit Lichtfunken beleuchtet hat, die wie Sterne aussahen.

Er drückte die Klinke vorsichtig hinunter und öffnete langsam die Tür, die keinen einzigen Ton von sich gab.

Ziya saß auf dem Sofa, die Beine an den Körper herangezogen, und besah mit abwesendem Blick die Anliegen der Sterblichen. Die einzige Lichtquelle waren noch immer die Lichtfunken an der Zimmerdecke.

Tai klopfte leise gegen das Holz der Tür, woraufhin Ziya hochschreckte und mit großen Augen in seine Richtung sah.

»Tai?«, sagte er mit kaum vorhandener Stimme und ließ das Blatt sinken, welches er eben durchgelesen hat. Zögernd stand er auf, bewegte sich aber sonst nicht vom Fleck.

Tai wich seinem Blick aus und schloss die Tür hinter sich. Das Buch legte er auf dem Glastisch ab, neben hohen Papierstapeln. Seine Beine trugen ihn, ohne dass er groß darüber nachdenken musste, vor Ziya. Erst da konnte er ihn richtig ansehen.

Die goldenen Augen, die Tai mittlerweile so vertraut waren, waren voller Unsicherheit und Zögern. Es war so ein gewaltiger Unterschied zwischen der Sicherheit, die er sonst ausstrahlte.

Tai schluckte schwer und atmete nochmal tief durch. »Es tut mir Leid. Ich hab überreagiert und-«

»Nein!«, unterbrach Ziya ihn und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, nein! Du darfst dich nicht entschuldigen. Ich war so dumm und hab ganz einfach etwas getan, was ich niemals hätte tun sollen und dann habe ich auch überreagiert ... und ... und-« Er kam ins Stottern und sah mit seinen zusammengezogenen Augenbrauen für einen Moment verärgert über sich selbst aus. »Und es tut mir Leid, das war wirklich, wirklich dumm.«

Davon überwältigt kam kein Wort über Tais Lippen. So viele Szenarien hatte er sich zu Recht gesponnen, aber das hier ist ihm kein einziges Mal, nicht mal annähernd in den Sinn gekommen.

»Stimmt, es war wirklich dumm«, brachte Tai schließlich schief grinsend hervor. Das lockte auch ein Lächeln von Ziya hervor, aber die Unsicherheit, die darin lag, hätte Tai am liebsten verjagt. Er hatte das Verlangen, seine Hand zu nehmen, hielt sich jedoch zurück. »Aber du warst nicht der Einzige, der dumm war.«

Ziya legte den Kopf schräg.

»Erinnerst du dich daran, wie ich gesagt habe, ich könnte nicht verstehen, warum du dich weggeschlichen hast?«

Ziya nickte und für einen winzigen Augenblick verzog sich sein Gesicht bei dem Gedanken daran.

»Das nehme ich nicht zurück. Mir fällt das immer noch schwer. Aber du hast das nicht ohne Grund gemacht, davon bin ich überzeugt«, sagte er. Leider konnte er sich schwer in andere hinein versetzen.

Nach einem Moment der Stille meinte Ziya scherzhaft: »Also können wir daraus schließen, dass wir beide Idioten sind, die schnell überreagieren?«

Tai lachte auf und senkte mit geschlossenen Augen den Kopf. Der Druck auf seiner Brust war plötzlich weg, das unsichtbare Seil, das seinen Hals umschlungen und ihm die Luft abgeschnitten hatte, wie in Nichts aufgelöst. Er konnte wieder atmen. »Ja«, stimmte er zu. »Wenn du dich selbst auch unbedingt als Idioten bezeichnen willst, können wir das machen.«

»Gut!«

»Ich weiß nicht so recht, ob das wirklich gut ist...« Verdammt, hatte Tai diese sorglose und glückliche Seite von Ziya vermisst. Und allgemein ... ihn. Wie war das überhaupt möglich? Wenn man bedachte, wie lang sie schon existieren, kannten sie sich erst für eine sehr kurze Zeit. Unwichtig, beschloss Tai. Einmal wollte er seinen Kopf ausschalten und nicht immer alles überdenken.

»Hat Jemand davon erfahren, dass du weg warst?«, fragte er.

»Nein. Sie waren alle ziemlich panisch, als ich wieder gekommen bin, weil sie mich nirgends finden konnten. Ich hab ihnen nicht erzählt, dass ich mich ins Mondschloss geschlichen hab, sondern dass ich einfach nur ein sehr gutes neues Versteck entdeckt habe«, antwortete Ziya schuldbewusst, als würde er erwarten, dass Tai negativ auf das Gesagte reagieren würde.

Doch entgegen seinen eigenen Erwartungen war Tai sogar erleichtert darüber. »Erzähl es Niemandem. Sie werden dich sonst nie wieder aus den Augen lassen.« Tai hörte Ziya erleichtert ausatmen.

Der Sonnengott sah grübelnd auf die Blätter, die sich auf dem Tisch und dem Sofa stapelten und schüttelte den Kopf. »Komm mit, ich will dir was zeigen. Das hier kann erstmal warten.« Er deutete auf die Papiere. »Außerdem will ich dir noch etwas erzählen.«

Silver Light [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt