Kapitel 18

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Höher und immer höher ging es die schmale Wendeltreppe hinauf. Durch kleine schmale Fenster, die in der Mauer eingelassen waren, konnte Tai sehen, wie weit sie schon vom Boden entfernt waren.

Sein Blick richtete sich nach oben, dort wo Ziya vor ihm die Stufen hinauf stieg. Er fragte sich, was Ziya ihm dort oben zeigen wollte.

Vor einer schlichten Tür hielten sie an. Ziya öffnete sie, woraufhin ihnen ein kühler Luftzug entgegen kam und durch ihre Haare und Kleidung fuhr.

Sie traten nach draußen, auf eine kleine Plattform, die rund um den Turm zu führen schien und von einer niedrigen Mauer umrandet war. Und nach nur einer Sekunde meinte Tai zu wissen, was Ziya ihm hier zeigen wollte. Den Ausblick.

Tai ging näher an die Mauer heran und lehnte sich etwas vor. Von hier oben sah der Garten nicht so groß aus, als wenn man hindurch spazierte, aber trotzdem wirkte er gewaltig. Doch das, was dahinter lag, war noch beeindruckender. Ein unendliches Meer aus Bäumen, die zu einer dunkelgrünen Fläche verschmolzen und bis an den Rand des Horizonts reichten, und im Hintergrund der fliederfarbene Himmel.

»Die Aussicht ist wirklich schön«, bemerkte er, noch immer eingenommen von dem Anblick.

»Finde ich auch.« Ziya trat neben ihn und stützte sich auf die Mauer. »Hier komme ich oft her, deswegen wollte ich es dir zeigen.«

Tai nickte, um zu zeigen, dass er zuhörte.

»Aber der Grund dafür, dass ich so oft her komme, ist nicht allein, dass die Aussicht schön ist«, gab Ziya leise zu und Tai konnte aus seiner gedankenverloreneren Stimme heraushören, dass er lächelte. »Dass man so weit sehen kann, das ist es, was diesen Ort hier oben so besonders für mich macht.«

Tai verstand auch ohne Erklärung sofort warum. Auch wenn Ziya nicht weit gehen konnte, konnte von hier aus wenigstens weit sehen. Es war eine Art Trost für ihn, genau wie der Garten, der nur für ihn bestimmt war.

Ziya stieß sich von der Mauer ab, griff nach Tais Hand und zog mit auf die andere Seite der Aussichtsplattform. Dicht neben ihn gestellt deutete er in die Ferne. »Man kann sogar den Schutzwall von einem anderen Reich sehen.«

Es stimmte, stellte Tai überrascht fest. Am Rand des Horizonts, zwischen den dunkelgrünen Baumkronen sah man das blasse goldene Schimmern eines Schutzwalls.

»Der Erdgott lebt dort. Mir ist das vorher noch nie aufgefallen, bis er mir das gezeigt hat«, sagte Ziya lachend. Dann ließ er den Kopf hängen und als er ihn wieder hob, um Tai anzusehen, war sein Gesichtsausdruck ernst. »Weißt du, eigentlich ... würde ich gern frei sein. Ich würde gern hingehen können, wo ich möchte und nicht an das Sonnenreich gebunden sein.«

Das war nicht sehr erstaunlich für Tai. Nachdem Ziya sich ins Mondschloss geschlichen hatte war das offensichtlich. Und ebenso offensichtlich war es, dass es ihm nicht egal gewesen wäre, wenn er danach für immer im Sonnenreich geblieben wäre.

Ziya ließ seinen Blick über den Garten und den Wald streifen. »Nur ... eigentlich habe ich schon sehr viele Freiheiten und es gibt keinen Ort im Sonnenreich wo ich nicht hin darf und ich habe hier alles was ich brauche... Und indem ich hierbleibe sind alle viel sicherer, als wenn ich in der Weltgeschichte herum wandern würde.«

Er wurde still und Tai bemerkte, wie er seine Finger streckte und dann zu Fäusten ballte. In diesem Moment wurde ihm mehr denn je bewusst, dass auch in Ziyas Kopf Gedanken versteckt waren, die ihn plagten und die er nicht an die Oberfläche ließ. Selbst Personen wie der Sonnengott, die augenscheinlich immer gut gelaunt sind, können Fassaden aufbauen, um ihre Probleme zu verstecken.

Aber Ziya war gerade im Begriff, diese Fassade für ihn abzureißen und das löste ein seltsames Kribbeln in ihm aus und betäubte ihn gleichzeitig.

Ziya ließ zittrig den Atem aus, den er angehalten hatte. Als er Tai dann wieder ansah, tobten in seinen Augen Zweifel und ein unlösbarer Konflikt. »Ich weiß einfach nicht, was richtig ist. Was ... was darf ich fühlen und was nicht? Bin ich geizig oder selbstsüchtig dafür, dass ich hier weg will? Oder ist das gerechtfertigt? Es ist doch falsch, weil ich damit die Gefahr, dass mir und allen anderen etwas passiert, verstärken würde, oder?« Seine Finger waren in den Stoff seines Shirts gekrallt.

Was...? »Nein! Nein, Ziya, so darfst du nicht denken!«, brachte Tai hervor, der Mühe damit hatte, Worte oder Sätze zu bilden. Trotz dessen, dass er mit irgendeiner Offenbarung gerechnet hat, traf ihn das Gesagte schwer. Sein Herz fühlte sich an, als würde es zerquetscht werden. Sich selbst mit dunklen Gedanken fertig zu machen war eine Sache, aber zu wissen, wie Ziya unter solchen Dingen litt, eine andere. Wie war es möglich, dass das hundert Mal mehr weh tat?

»So darfst du nicht denken«, wiederholte er sanfter, löste Ziyas verkrampfte Hände von seinem Shirt und nahm sie in seine eigenen. »Dein Wunsch, frei zu sein und das, was du fühlst, kann nicht falsch sein. Es ist auch nicht selbstsüchtig oder geizig, etwas zu wollen, was einem eigentlich zusteht.« Und durch seine eigenen Worte verstand Tai plötzlich etwas besser, warum sich Ziya aus dem Sonnenreich davon gestohlen hat.

Ziya drückte Tais Hände schwach, aber der kummervolle und zweifelnde Ausdruck in seinem Gesicht verschwand nicht und das Licht um ihn herum hörte nicht auf zu flackern.

Tai das zu erzählen und offenzulegen, was sich in ihn hineingefressen hat, war bestimmt schwer für den Sonnengott zu verarbeiten. Tai kannte das von sich selbst, auch wenn die schwärzesten Gedanken und Erinnerungen so tief vergraben waren, dass er sie selbst manchmal nicht erreichte. So etwas mit Jemandem zu teilen machte die eigenen Emotionen dem gegenüber stärker.

»Du kannst deinen Gefühlen vertrauen. Sie belügen einen nicht«, sagte Tai. »Sie sind nicht falsch.«

Ziya sah ihn für einen Moment an, bevor er den Kopf hängen ließ. »Ich kann das nicht glauben. Noch nicht.« Dafür trug er das wahrscheinlich schon zu lang mit sich herum.

»Du musst das jetzt noch nicht glauben«, versicherte Tai ihm.

»Irgendwann vielleicht.« Ein unausgesprochenes hoffentlich lag in der Luft. Hoffentlich kann ich das irgendwann verstehen.

Tai löste seine nicht behandschuhte Hand und mit dem spontan auftauchenden Mut, der durch seinen Körper floss, fuhr er mit ihr vorsichtig durch Ziyas rotblonde Strähnen und ließ sie danach auf seiner Schulter ruhen. »Als ich dich kennen gelernt habe, hätte ich nie gedacht, dass du so denkst.«

»Ich zeige es ja auch nicht«, sagte Ziya leise lachend. »Normalerweise.« Dann – nach einem kurzen Moment der Stille und sich gegenseitig in die Augen blicken – trat Ziya auf einmal einen Schritt nach vorn und legte seine Arme fest um Tai.

»Was soll das denn plötzlich?«, fragte Tai belustigt, erwiderte aber trotzdem die Umarmung.

»Mir war grad einfach danach«, lautete die simple Erklärung.

Daraufhin schüttelte Tai lächelnd den Kopf und legte sein Kinn auf Ziyas Schulter ab.

Schon wieder war es da. Das Gefühl, dass das hier absolut richtig war. Tai dachte nicht weiter darüber nach. Er wusste, dass er auf seine Gefühle vertrauen konnte.

Silver Light [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt