Kapitel 20

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»Ich...« Mini seufzte genervt, während sie gemeinsam den Saal verließen. »Ich versteh das einfach nicht. Warum denken so viele, dass man nichts gegen die Schatten unternehmen müsste? Wenigstens ist Yanil klar bei Verstand«, murmelte sie.

Ziya zuckte demotiviert mit den Schultern. Sein Licht war noch immer nicht heller geworden. Würde sich seine Laune diesmal auch wieder so schnell heben lassen können?

»Vielleicht denken sie das gar nicht«, sagte Bell und steckte die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke. »Vielleicht denken sie, dass man gar nichts gegen sie unternehmen kann und verwerfen deshalb den Gedanken gleich wieder.«

»Das ist doch dumm«, meinte Mini nach kurzem Zögern.

Aria, die auf ihrem Wind über ihnen schwebte, äußerte nun auch ihre Meinung dazu: »Also ich finde, man müsste einfach nur vorsichtiger sein, dann sind die Schatten doch kein Problem mehr.«

»Noch vorsichtiger?«, fragte Mini. »Sollen wir uns dem Wall nur noch auf zehn Meter nähern, oder was?«

»Außerdem«, Bell griff nach oben und zog Aria soweit runter, dass sie auf Augenhöhe war, »hast du damit gerade indirekt gesagt, dass es die Schuld von Ziyas Helfer war, dass er fast von den Schatten erledigt wurde.«

Aria riss sich los und flog schmollend etwas höher. »Man muss ja nicht immer gleich anderen die Schuld geben«, murmelte sie, wurde aber diesmal von Bell ignoriert.

Die Stimmung nach der Versammlung war deutlich gedrückt.

Tai beteiligte sich nicht am Gespräch. Er hörte ihnen zu, aber hätte er den Mund geöffnet, hätten sie alle mitbekommen, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Dass Mina sein seltsames Verhalten vorhin anscheinend vergessen hat, war schon fast zu viel Glück.

Er hatte so viel Angst. Angst, dass seinen Freunden etwas passiert und Angst, dass sie von dem erfahren, was er so lang verstecken konnte. Seine rechte Hand zitterte. Er versteckte sie hinter seinem Rücken.

Leise seufzend fragte sich Tai, ob er auch seine Gefühle noch lang so einfach verstecken konnte. Er hatte eine dumpfe Vorahnung, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis jemand davon erfährt.



Die kleine Gruppe begab sich in die Bibliothek. Sie war leer, so wie sonst auch. Dort ging nur selten jemand hin.

Tai verschwand in die oberen Stockwerke mit der Entschuldigung, ein bestimmtes Buch zu suchen. Er war dankbar für die Gelegenheit, sich etwas zurückziehen zu können und sich nicht ständig darüber Sorgen machen zu müssen, ob die anderen ihm etwas ansehen oder nicht.

Tai stieg die Treppe hinauf, auf deren Stufen schwerer Teppich lag. Sein Blick wanderte für einen Moment nach unten, dorthin, wo die anderen saßen und redeten. Er stockte kurz, als er merkte, dass Ziyas Aufmerksamkeit nicht auf Aria, Bell oder Mini lag, sondern auf ihm. Und diesmal war es Tai zur Abwechslung unangenehm. Hatte er irgendwas bemerkt?

Oben angekommen begab Tai sich in eine Abteilung, die vor alten Schriftrollen nur so überquoll. Doch er hielt nach keiner Besonderen Ausschau. Stattdessen ließ er sich auf den Boden fallen. Das Holz des Regals drückte ihm in den Rücken. Tai atmete einmal tief durch und spürte, wie die Spannung seinen Körper verließ. Seine Muskeln schmerzten, weil sie so lang verkrampft waren.

Was passiert hier gerade?, fragte Tai sich selbst und blinzelte träge. Er hatte das Gefühl, dass alles Stein für Stein zusammenbrach. Und er konnte rein gar nichts dagegen unternehmen. Ausgerechnet jetzt, wo Tais Leben begonnen hatte, sich in eine positive Richtung zu drehen. Tai wollte nicht gleich sagen, dass es unfair wäre, aber ... es machte ihn traurig. Es ließ ihn bereuen, dass er selbst nicht früher etwas geändert hatte. So hätte er diese Zeit vielleicht noch etwas länger genießen können.

Tai seufzte schwer und zog die Beine an. Hätte. Wäre. Könnte. In letzter Zeit dachte er oft so. Was wäre passiert, wenn die Dinge nur ein bisschen anders gewesen wären oder wenn er sich nur ein bisschen anders verhalten hätte. Es fiel ihm auf, aber stoppen konnte er es nicht. Mittlerweile bereute er vieles. Aber am meisten bereute er, dass er so unfassbar viel zu bereuen hatte.

Dann hörte Tai plötzlich sich nähernde Schritte. In einem kurzen Anflug von Panik erstarrte er, dann griff er blindlings ins Regal, zog eine Schriftrolle heraus und breitete sie vor sich auf dem Boden aus. Er sagte, er wolle hier oben etwas zu lesen suchen, also sollte man ihn besser nicht finden, während er nichts tat. Zumindest wenn er umnehmen Fragen aus dem Weg gehen wollte.

Aus dem Augenwinkel sah Tai, wie jemand in den Gang trat, auf dessen Boden er hockte. Er wendete den Kopf und erwartete – oder hoffte ein wenig? – Ziya zu sehen, aber stattdessen stand Aria dort.

Allein die Tatsache, dass sie nicht geflogen ist, machte Tai schon stutzig. Dazu kam dann noch, dass sie irgendwie unsicher wirkte. Aria. Unsicher. Das war wirklich seltsam.

Sie legte den Weg zu ihm in kleinen Schritten zurück und kaute auf ihrer Unterlippe, während ihr Blick immer wieder über den Boden und die Bücherregale glitt. Gegenüber von Tai setzte sie sich dann im Schneidersitz hin und stützte den Kopf in die Hände.

Tai blinzelte sie perplex an, aber sie sah nur auf die Schriftrolle, deren Inhalt unordentlich auf das Papier gepinselt wurde. Lag sie falsch herum? Tai überprüfte es schnell, aber er hatte sie glücklicherweise richtig platziert.

»Hab ich... Es ist doch...«, begann Aria und hatte sichtlich Mühe damit, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie sammelte sich. »Bell redet nicht mehr mit mir. Ich glaube, sie ist sauer auf mich.«

»Ist sie das nicht fast immer?«, fragte Tai verwirrt.

»Nein...« Aria schmollte ihn kurz an, aber dann kehrte dieser verlorene Ausdruck in ihr Gesicht zurück. »Sonst ist Bell ja nur sehr genervt, aber nie wirklich sauer. Und sie hat mich auch noch nie einfach ignoriert! Obwohl sie mich grad auch nicht so wirklich ignoriert, sie starrt mich manchmal fies an, oder ... oder enttäuscht? Ich weiß nicht genau warum, vielleicht wegen dem, was ich vorhin gesagt habe?« Ihre großen, ratlosen Augen waren auf ihn gerichtet. »War das so verwerflich? Es stimmt doch, oder nicht? Wenn dieser Helfer von Ziya nicht so nah am Wall gewesen wäre, dann wäre nichts passiert. Ich will doch einfach nur nicht die Schuld immer auf andere schieben.«

Tai reagierte nicht. In seinem Kopf drehte sich alles und von der einen auf die andere Seite geschleudert. Oder war es die Welt um ihn herum, die sich so bewegte?

»Tai?«

Sein Blick fokussierte sich wieder. »Ich weiß es nicht, Aria«, seufzte er und ließ die Schultern sinken. »Irgendwie weiß ich im Moment gar nichts mehr.« Es stimmte. Das einzige, was für ihn noch klar fassbar war, war das Bröckeln und die Steine, die nach und nach zu Boden fielen und zerbrachen.



Und dann wurde das Ergebnis verkündet.

Es war ein Witz. Es musste ein Witz sein.

Sie wollen erstmal nicht übereilt handeln, weil die Schatten vorher noch nie etwas Derartiges getan haben, das kann ja mal passieren, das war nur eine Frage der Zeit, man kann ja sowieso nicht viel dagegen tun.

Tai fragte sich wie viele Götter überhaupt schon mal einen Schatten gesehen haben. Vielleicht hatten sie alle auch nur einen Selbstmordwunsch?

Er verstand die Welt nicht mehr. Er war nicht mal mehr wütend oder aufgebracht, sondern nur noch ratlos.

So wie Ziya aussah, schien es ihm nicht anders zu gehen. Aria wirkte nicht verändert, dafür sah Bell neben ihr so zornig aus, als würde sie jeden Moment den Saal auseinander nehmen.

Tai machte sich Sorgen. So lang sie nichts unternahmen, so lang würde sich auch nichts ändern. Und das bedeutete, es könnte jederzeit wieder so ein Unfall passieren. Oder war Angriff treffender?

Und dann kam ihm ein Gedanke, bei dem es ihm eiskalt den Rücken hinunter lief. Einer von Ziyas Lieblingsplätzen. Die kleine, vom restlichen Garten abgeschnittene Fläche, die sich direkt am Wall befand. Tai hat selbst schon mitbekommen, wie nah sich Ziya manchmal an den Schutzwall wagt.

Auf einmal wurde er unruhig und hatte Gefühl, dringend mit Ziya sprechen zu müssen.

Silver Light [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt