A C H T

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Weihnachten 2018

Ein lauschiges Feuer prasselt im Kamin und wirft tanzende Schatten an die Wände. Hin und wieder ertönt ein Knacksen und rumpeln, wenn ein Holzscheit umfällt und in Flammen aufgeht. Draußen ist es bereits dunkel und neben einer kleinen Leselampe ist das Feuer im Kamin die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer, in dem ich es mir mit einem Buch bequem gemacht habe. Mit angezogenen Beinen sitze ich in einem kuscheligen Ohrensessel, eine Decke um mich gewickelt und blättere alle paar Minuten eine Seite um, während mich ein wohliges Gefühl von Zufriedenheit einhüllt.
Träge gähne ich, als ich am Ende eines Kapitels ankomme, und schließe den Buchdeckel. Ein Blick auf die Uhr über dem Kamin verrät mir, dass es schon nach elf Uhr ist und ich somit schon drei Stunden hier bin. Etwas unter der Uhr, eine Handbreit über dem Kaminsims hängen drei große Socken, von denen jeweils einer mit den Buchstaben T, P, oder C geschmückt ist. Meine wurde auf der Herfahrt gekauft, als wir zu dritt New York verließen, um unser erstes gemeinsames Weihnachten dort zu verbringen, wo alles vor über einem Monat angefangen hat. Tony, Pepper und ich waren uns einig, unser erstes Fest lieber im privateren Kreis in der Stadtrandvilla als im Stark Tower zu feiern.
Ich grinse, als ich an die Geschenke denke, die fertig verpackt in meinem Schrank lagern. Ich hoffe, ihren Geschmack getroffen zu haben, bei Tony bin ich mir sogar ziemlich sicher.
Die Geschenke waren das Erste, dass ich mit meinem Lohn gekauft habe. Ich arbeite nämlich seit Anfang Dezember in einer ruhigen, kleinen Buchhandlung bei einer ebenso kleinen, aber mit liebenswürdigem Temperament gesegneten Witwe in den Fünfzigern. Mrs Elena Morris hat erst nach dem Tod ihres Mannes den gemeinsamen Lebenstraum von einem Laden verwirklichen können und war nur noch auf der Suche nach einer Ladenhilfe, als die ich jetzt arbeite. Pepper war anfangs dagegen, dass ich mir einen Job außerhalb ihres Unternehmens und ihrer Reichweite nehme, aber Tony und ich konnten sie mit vereinten Kräften schließlich breitschlagen. Schließlich will sie ja nur, dass ich glücklich bin.
Mittlerweile stehe ich Tony schon etwas näher. Die anfängliche Zurückhaltung ist einem gewissen Vaterstolz gewichen, und wir haben herausgefunden, dass wir uns ähnlicher sind, als wir dachten.
Mit Pepper verstehe ich mich so gut wie von Anfang an, doch während Tony immer mehr zu meinem Vater wird, wird sie nie meine Mom sein. Ich habe bereits eine Mom. Pepper hingegen ist mehr eine Art Tante für mich, und ich bin mir sicher, dass sie das ähnlich sieht.

Ich drehe die Lampe ab, schnappe mein Buch und laufe Richtung Treppe, um in mein Zimmer zu gelangen. Dort angekommen öffne ich die Kleiderschranktüren und schleiche heimlich die Treppe wieder hinunter, um die Geschenke unter meinen Armen in die überdimensionalen Socken zu stecken. Als auch das erledigt ist, schlüpfe ich schnell in meinen Pyjama und krieche in mein Bett. Ein müdes, aber zufriedenes Grinsen legt sich auf mein Gesicht, während ich im Einschlafen in die Dunkelheit des Raumes starre. So soll sich Weihnachten anfühlen.

„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein!", trällert eine Stimme viel zu nah an meinem Ohr. Gereizt verziehe ich das Gesicht. „Verzieh dich, Tony", murre ich in mein Kissen hinein und ziehe die Decke fester um mich. Doch er lässt nicht locker und ich spüre einen kurzen Ruck, dann ist mir kalt. Knurrend kugle ich mich noch näher zusammen und taste währenddessen mit meiner linken Hand nach einem Polster, dem ich dem Eindringling dann entgegenschleudere. „Keine Gewalt an Weihnachten!", flötet dieser und wirft das Kissen mit der gestohlenen Decke zurück. Genervt setze ich mich auf und blinzele mehrmals, um den Schlaf aus meinen Augen zu vertreiben. „Na, das werden heuer schöne Weihnachtsfotos", kommentiert er sarkastisch, als ich versuche, mir mit den Fingern durch die Haare zu kämmen und dabei prompt stecken bleibe. „Raus hier!", fauche ich und mein Vater verlässt grinsend mein Zimmer. Ich stöhne genervt, muss aber dann doch lachen.
Zehn Minuten später trample ich die Stufen nach unten, während mir alte Weihnachtshits entgegenschallen. „Sieh mal, die Vogelscheuche hat sich verwandelt", kommentiert der neben den Soundboxen lehnende Tony mein Outfit, das aus einer schwarzen Jeans und einem rot-weißen Strickpullover besteht, über dem ordentlich der Zopf liegt, in den ich meine Haarexplosion gebändigt habe. Ich zeige ihm den Mittelfinger. „Keine obszönen Gesten an Weihnachten, Caitlin. Dafür kriegst du einen Bonussternchenabzug!" Ich verdrehe die Augen und schlendere zu Pepper in die Küche. „Frohe Weihnachten, Cat!", begrüßt sie mich und hält mir einen Teller mit gebratenem Speck entgegen. „Vielen Dank!", sagt Tony hinter meinem Rücken und beugt sich nach vorn, um meinen Speck zu klauen, doch ich schaffe es gerade noch, den Teller aus seiner Reichweite zu bekommen. „Wenn der Mittelfinger zu Weihnachten verboten ist, dann auch Diebstahl!", protestiere ich.
Eine halbe Stunde später sind unsere Mägen gefüllt und das Frühstücksgeschirr stapelt sich in der Spüle. Wir sitzen am Boden vor dem Kamin und ich beobachte mit der Kamera in der Hand wie Tony seine Geschenke auswickelt. „Das ist das reinste Ego-Boosting", stöhnt Pepper, als ich ihn mit seiner neuen Ironman-Aktentasche ablichte. „Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt!" Ich lache. Als ich sie auf dem Heimweg von der Buchhandlung entdeckt habe, musste ich einfach zugreifen.
„Jetzt du, Cates!", fordert Tony. Ich drücke Pepper die Kamera in die Hand und stehe auf, um in meinen Socken zu greifen. Mit gerunzelter Stirn wühle ich darin herum, bis ich endlich etwas Kleines, Kantiges zu greifen bekomme. Ich ziehe es heraus. Ein Schlüssel? Wie zu einem- „Draußen, Cat!", gibt Pepper schmunzelnd einen Hinweis und ich stürme gefolgt von Pepper und Tony zur Haustüre und reiße sie auf. „Oh. Mein. GOTT!", kreische ich und falle zuerst Tony und dann Pepper um den Hals, bevor ich mit meinen Socken auf die nasse Auffahrt hinauslaufe, direkt auf die knallrote Vespa zu, die geparkt in der schneebefreiten Fläche steht und deren Schlüssel ich in Händen halte. „Woher wusstet ihr das?", frage ich atemlos, während ich meine Finger über den ledernen Sitz gleiten lasse. „Ich hatte einen kleinen Austausch mit deiner Mom", erklärt Tony. Meine Finger verharren an Ort und Stelle. Ich erinnere mich noch an das Gespräch vor nicht einmal einem Jahr. Eines der wenigen Gespräche, die wir nach dem Ausbruch der Sucht geführt haben und die normal verlaufen sind. Ich hatte immer Angst vor Mopeds und Motorrädern gehabt, weil ich vor vielen Jahren einmal einen Unfall mit einem Motorrad beobachtet hatte. Ein alter Mann war auf einer Kreuzung ausgerutscht und unter seine Maschine geraten. Ich erinnere mich immer noch an seine dem Schock geschuldeten Versuche aufzustehen, doch er konnte nicht. Sein Bein war zertrümmert. Doch irgendwann verblasste die Angst in mir und der Traum von einem eigenen kleinen Roller erwachte. Mit fünfzehn wollte ich nach Italien ziehen und dort mit meiner roten Vespa und den Haaren frei im Wind flattern durch eine idyllische Kleinstadt brausen, um dann mit einem sexy Italiener mit dunklen Locken einen Espresso trinken. Mittlerweile ist nurmehr der Wunsch nach dem roten Roller geblieben und ich bin überrascht, dass meine Mom sich überhaupt daran erinnert.
„Also Cates: Das hier ist das Zündschloss. Wenn du den Schlüssel drehst, ist die Zündung eingeschaltet. Zum Starten drückst du die linke Bremse hier, und drehst am Gashebel rechts." Tony zeigt mir, was ich tun muss. „Hier ist der Blinker. Wenn du auf den Schalter drückst, schaltest du ihn aus. Da ist die Hupe. Die brauchst du in der Stadt sowieso immer." Wie zur Bestätigung drückt er ein paar Mal drauf. Dann zeigt er auf einen kleinen Knopf neben dem Blinker. „Ich habe den Roller auseinandergenommen und mit ein paar Teilchen mehr wieder zusammengesetzt", gesteht er. „Das ist für Unfälle gedacht. Wenn du da draufdrückst, fahren auf den Seiten Airbags raus und der Roller macht eine automatische Notbremsung. Ich hoffe es stört dich nicht. Und wenn es dich stört, mache ich es trotzdem nicht wieder raus." Lachend boxe ich ihn die Seite. „Aber auf das bestehen wir", meldet sich Pepper zu Wort und drückt mir einen hellen Helm in die Hand. „Nur damit du es weißt, Tony wollte dir einen Iron-Man-Helm kaufen, aber weil ich ihn ausgesucht habe, wollte er auch da herumspielen." Ich setze den Helm auf und als ich das Visier herunterklappe, erscheint ein hellblauer Bildschirm vor meinen Augen. „Guten Morgen, Miss", ertönt F.R.I.D.A.Y.s Stimme. „Die Straßen in New York sind ziemlich überfüllt. Ich würde Ihnen raten, während der Feiertage zu Hause zu bleiben." Überrascht sehe ich durch das Visier Tony an und klappe es hoch. „Wenn ich dir schon keinen Iron-Man-Helm kaufen durfte, sollte er wenigstens etwas können", grinst Tony.

In meinem Zimmer fische ich mein Handy aus der Hosentasche und öffne einen Kontakt. Kurz schwebt mein Daumen über dem Telefonsymbol, doch dann tippe ich trotzdem auf SMS. Ich schreibe nicht viel, nur zwei Wörter und ein Satzzeichen, doch dennoch kommt es mir vor wie etwas Weltveränderndes, eventuell ein Neuanfang: „Danke, Mom"


Puh, da bin ich wieder :D Jetzt kommt die eigentliche Handlung ins Rollen, ich hatte einige Probleme mit dem Anfang (der mir übrigens überhaupt nicht gefällt. Ich werde ihn ziemlich bald überarbeiten.) Übrigens, vielen Dank für all die Reads und an @charlxh2 für die Votes! Ich hab gedacht, ich spinne, als ich es gesehen habe!

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