A C H T Z E H N

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„Das wars, Cates." Tony entfernt die Nadel aus meinem Arm, worauf eine junge Assistentin diesen schnell mit geübten und routinierten Handgriffen verbindet, und wirft die mit meinem Blut gefüllten Glasröhrchen Dr Banner zu. „Kommst du heute mit Pepper und mir zum Chinesen? Ich habe richtig Lust auf chinesisches Essen." Ich zucke mit den Schultern. „Von mir aus. Hat Pepper heute überhaupt Zeit?" „Das erfahren wir dann, wenn ich sie gefragt habe." Ich verdrehe die Augen, während er bloß grinst. „Sag mir Bescheid, wenn du was von ihr weißt!", rufe ich über die Schulter, während ich aus dem Labor rolle. Dann halte ich auf den Aufzug zu, um in mein Appartement zu kommen.

Vor dem Badezimmerspiegel wickle ich den dünnen Verband von meinem Ellbogen. Von dem kleinen Einstichloch ist so gut wie gar nichts zusehen, nicht einmal ein blauer Fleck bildet sich. Zufrieden wende ich den Blick ab und checke zum mindestens zehntausendsten Mal heute Morgen mein Handy, aber nichts, nada, niente. Keine Nachricht. Natürlich sollte ich auch beachten, dass es erst zehn Uhr morgens ist, aber dass will mir nicht gelingen. Vorgestern habe ich meinen Freunden quasi unabsichtlich erzählt, dass ein radioaktives Gas inhaliert habe, dass meinen Körper für immer verändert hat. Ich hätte es auch eventuell vorsichtiger ausdrücken können, und außerdem zu einem günstigeren Zeitpunkt, irgendwann, wenn sie schon verkraftet hätten, dass ich die Tochter eines Superhelden war. Aber bis jetzt hat sich keiner bei mir gemeldet. Soll ich ihnen mehr Zeit lassen?

Stöhnend bewege ich den Steuerknüppel und lasse den Rollstuhl von meinem Badezimmer in mein Schlafzimmer/Wohnzimmer rollen. Obwohl die Lautstärke meines Handys nicht lauter gestellt sein könnte, kann ich mich nicht davon abhalten, ständig zu überprüfen, ob eine Nachricht eingetrudelt ist.

Eine Nachricht von Marco.

Wem mache ich etwas vor? Wenn sich jemand der anderen melden würde, würde ich als erstes fragen, wie Marco die Neuigkeiten aufgenommen hat. Ich mache mir Sorgen um unsere Freundschaft, zu groß sind unsere Unterschiede, zumindest was Materielles betrifft. Ansonsten ist es, als hätte ich einen Bruder im Geiste gefunden. Mit niemanden kann ich so ehrlich über alles reden, was mich bedrückt, welche Ängste ich habe, und gleichzeitig weiß ich, dass er sich über alles Gute in meinem Leben mit mir freut. Was wenn ich ihn verloren habe?

„Heb mich bitte raus, Friday", murmele ich und warte darauf, dass mich ein Greifarm aus dem Ledersitz hebt und auf meinem Bett ablegt, was auch direkt geschieht. Nachdenklich starre ich an die Decke. Ich wohne erst seit Mitte November bei Pepper und meinem Dad. Jetzt ist es Anfang März und alles hat sich verändert. Ich habe ein Zuhause verlassen und ein Neues gefunden, Freunde gewonnen, einen beinahe tödlichen Unfall überlebt, einen Lungenflügel verloren und vielleicht auch noch meinen besten Freund. Mein Leben besteht aus unzähligen Puzzleteilen aus verschieden Puzzles, die wild durcheinandergemischt worden sind und zufällig irgendwie zusammenhalten. Doch was wird passieren, wenn ein Teil sich löst, weil er nicht hundertprozentig passt? Ein Loch wird zurückbleiben, aber kann es wieder gefüllt werden?

Ich wische die trüben Gedanken ab und baue eine mentale Schutzmauer, um sie von mir fernzuhalten. Ich hasse diese Gedanken, die sich in meinem Denken festkrallen und mich nicht mehr loslassen. Stöhnend sehe ich mich nach meinem Telefon um. Schließlich entdecke ich es auf dem Boden vor meinem Bett. Es muss herausgefallen sein, als Friday mich aufs Bett befördert hat. Ich versuche, an die Bettkante zu robben, doch der riesige Gips behindert mich dabei und ich komme kaum vom Fleck. Genervt strecke ich die Hand nach meinem Handy aus, wohlwissend, dass ich nicht an es herankommen werde. Aufgrund der Tatsache, dass ich nicht einmal so eine Kleinigkeit selbst erledigen kann, baut sich Wut in meinem Bauch auf. Wäre ich gestanden, hätte ich jetzt zornig mit dem Fuß aufgestampft wie ein kleines Kind.

Da geschieht es. Unvorhersehbar und plötzlich.

Etwas in mir, unterhalb meines Brustbeins, hebt sich, es ist ähnlich wie in einer Achterbahn, wenn man glaubt, man muss kotzen, und vor meinen Augen taucht ein anderes Bild auf, nur ein kurzes Aufblitzen, das Gefühl, als würde ich etwas packen und ziehen, dann liege ich keuchend auf meinem Bett und starre an die Decke. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. „Was zum Teufel war das?", frage ich ängstlich in die Stille. Ich warte, bis sich mein Puls und Atem wieder etwas normalisiert haben, dann drehe ich den Kopf nach rechts. Mein Herz bleibt für einen kurzen Moment stehen, dann beginnt es wieder zu rasen. Entsetzt schleudere ich das Handy in meiner rechten Hand von mir und ziehe meine Hand heftig atmend so eng an meine Brust wie nur möglich. Panisch starre ich auf das schwarze Telefon, dass nun wieder am Boden liegt. Wie ist es in meine Hand gekommen? Wie ist das möglich? Bin ich verrück? Habe ich es mir nur eingebildet? Bin ich irgendwie nah genug an mein Handy gekommen, um es aufzuheben?

Unwahrscheinlich. Das Bett mitsamt Matratze ist hoch genug, dass ich bei dem Versuch wahrscheinlich heruntergefallen wäre. Erlaubt sich jemand einen Scherz? Aber wer? Wer würde so etwas tun? Wer wäre fähig so etwas zu tun?

Ich erinnere mich wieder an das Gefühl, dieses Anheben dieses Teils meines Körpers, obwohl ich zweifellos die ganze Zeit auf dem Bett gelegen bin. Es hat sich angefühlt wie ein Ball in meinem Bauch, als wäre da ein Organ, an dem mich etwas nach oben gezogen hat. Ich rufe mir in Erinnerung, wie genau es sich angefühlt hat, was geschehen ist.

Ich versuche, ruhig zu bleiben und konzentriere mich auf das Gefühl, doch bevor es wieder verschwinden kann, verstärke ich es. Langsam öffne ich die Augen, die ich unbewusst fest zusammengekniffen habe.
Vor Schreck über den Anblick, der sich mir bietet, entgleitet mir das Gefühl und ich schließe schwer atmend meine Augenlider, um mich zu beruhigen.
Ich habe mich gesehen. Auf dem Bett liegend, in dem dunkelgrünen T-Shirt. Mit geschlossenen Augen und ausdruckslosem Gesicht. Um mein liegendes Ich herum das Zimmer. Als wäre ich ein Zuschauer, ein Geist, der im Raum schwebt. „Was geschieht hier?", flüstere ich verwirrt. Mir ist klar, dass ich es noch einmal probieren muss, um herauszufinden, was es ist. Also konzentriere ich mich und versuche es nochmal. Ich hebe diese Stelle in meinem Bauch in Gedanken an, fokussiere mein ganzes Denken darauf.

Diesmal bin ich darauf eingestellt, was meine Augen mir zeigen. Ich öffne blinzelnd die Lider und konzentriere mich auf den Ball, der pochend wie ein zweites Herz in meiner Brust schwebt.
Unter mir liegt mein Zimmer. Vorsichtig lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Alles scheint so zu sein wie immer. Ich fixiere mit meinem Blick zuerst das Handy auf dem Boden, dann meine rechte Hand. Ich ziehe und plötzlich fühle ich wieder das Bettlaken unter meinem Rücken und das kalte Metall meines Telefons in meiner Hand.
Doch was mir Angst macht, ist das warme Pulsieren unter meinen Rippen, hauptsächlich in der rechten Hälfte meines Brustkorbes. Dort, wo eigentlich nichts sein sollte.

„Oh Gott", flüstere ich hysterisch. Ich höre Banners Stimme in meinem Gedächtnis: „Das Gas hat eine Mutation ausgelöst", mich selbst zu Peter sagen: „Ich bin keiner von den coolen Mutanten."

Mein Atem wird immer schneller, panisch versuche ich ruhig zu bleiben. Ich kneife die Augen zusammen und zähle bis zehn. „Friday, zurück in den Rollstuhl bitte", ordne ich mit geschlossenen Augen an. Als ich das glatte Leder unter meinen Fingerspitzen fühlen kann, öffne ich meine Augen wieder. Ich atme bemüht ruhig, doch mein Herz schlägt so schnell, als wolle es aus meiner Brust heraus. „Ruf einen Fahrstuhl", trage ich F.R.I.D.A.Y. noch auf, dann rolle ich so schnell wie möglich aus dem Zimmer.

Es regnet draußen, doch ich merke es kaum. Alles verschwimmt zu einer grauen Masse, während ich den Rollstuhl über die rutschigen Bürgersteige schlittere. Entfernt höre ich Hupen und Schimpfen, als ich ohne einen Blick auf den Verkehr über eine Straße rolle. Mein Ziel jedoch habe ich klar vor Augen.

Obwohl ich mich auf dem Weg hier her körperlich fast gar nicht bewegt habe, bin ich außer Atem, als ich auf die Klingel drücke. Angespannt warte ich, versuche mich irgendwie zu beschäftigen, doch mein Kopf wird vom Pochen meines Herzens eingenommen, während ich auf die hellbraune Fußmatte mit der Aufschrift Benvenuto starre.

„Was zur Hölle ist passiert, Caitlin?" Ich blicke auf. Marcos Augen gleiten über meine durchnässte Erscheinung, dann bohren sie sich in meine. „Was machst du draußen im Regen?" Seine warmen Augen lassen alle Mauern, die Panik und Angst in meinem Kopf aufgebaut haben, und die klares Denken verhindern, zusammenbrechen. Mehr zu mir selbst als zu ihm wispere ich mit angstgeweiteten Augen: „Ich habe ein Problem."


Wie ich schon auf meinem Profil gesagt habe, sorry für die Verspätung. Aber langsam nähern wir uns dem Höhepunkt :)

Superhero's ChildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt