9. Kapitel

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Um uns an den verschobenen Schlafrhythmus zu gewöhnen, wecke ich am frühen Abend zunächst Melissa und Solana. Diese wecken dann den Rest, damit wir uns zusammensetzen und weiterplanen können. Tobias erklärt den anderen, dass wir erst am nächsten Abend aufbrechen werden, damit wir noch unsere Kräfte schonen können. Wie von allein wandert mein Blick zu Melissa, die immer noch mit ihren Schmerzen zu kämpfen hat. Besonders für sie ist diese kleine Verschnaufspause wichtig. Nachher werde ich ihr wahrscheinlich nochmal Schmerztabletten geben müssen.

Gerade als alle wieder an ihre Plätze gehen wollen, hebt Tobias seine Hand und alle verharren in ihrer Position. «Wartet bitte noch eine Sekunde. Ich möchte euch noch von einer Eilmeldung erzählen, die gestern im Fernsehen lief. Da es hier drinnen keine Möglichkeit gibt diese zu empfangen, habt ihr es nicht mitbekommen. Aber unsere Flucht ist aufgeflogen und es wird vermehrt nach uns gesucht. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir so weit wie möglich weg von hier kommen und ein sicheres Gebäude finden.» Er legt eine kurze Pause ein, um die Reaktionen der anderen zu sehen. Die meisten wirken bestürzt, einige sogar wirklich verängstig. Doch am Ende ist es wieder Marya, die die nächste Frage stellt: «Hast du schon eine Idee, was das sein soll? Schließlich wissen wir nicht, was wirklich sicher ist.» «Ich habe nicht nur eine Idee, sondern weiß genau, wo wir sicher sein werden. Es ist allerdings noch ein weiter Weg, den wir zurücklegen müssen. Ich hoffe, dass das euch allen klar ist.» Vereinzelte nicken, während viele zunächst nur betreten zu Boden schauen. Doch nachdem diese über unsere Situation nachgedacht haben, nicken auch sie. «Hat ganz zufällig jemand von euch eine Stadtkarte mit, damit ich den Weg und die Zwischenstopps planen kann?» Ein Junge springt sofort auf und eilt zu seinem Rucksack. Nachdem er die Karte gefunden und Tobias gegeben hat, meint dieser, dass wir anderen uns ausruhen sollen. Er und der Junge ziehen sich in eine Ecke zurück und fangen an eine Route zu entwickeln. Bevor ich mich wieder auf das Krankenhausdach zurückziehe, gehe ich noch einmal zu Melissa und gebe ihr eine Schmerztablette.

Oben auf dem Dach angekommen, setze ich mich einfach auf den Boden und schaue dem Tag bei seinem Kampf gegen die Nacht zu. Sehe, wie die Sonne gegen den Mond verliert. Sehe, wie die Nacht ihren Sieg feiert. Die Sterne leuchten immer heller und heller, scheinen ihre Freude so auszudrücken. Doch genau dadurch spenden sie in einer noch so dunklen Nacht die Hoffnung auf den Tag, die Helligkeit, das Ziel. Egal wie sehr die Dunkelheit dich beherrscht, Licht wird es immer geben und dir zur Rettung eilen.
Während ich weiterhin den Sternenhimmel betrachte, denke ich an Dara. Meine Erinnerungen verbinden diesen Ort unweigerlich mit ihr und es ist verwunderlich, dass ich nicht schon viel früher an sie gedacht habe. Hier haben wir unsere letzten Stunden zusammen gebracht, ehe ich in das nächste Kapitel meines Lebens reisen musste. Die graue, alte, weise Frau hat mir soviel beigebracht. Hat mir gezeigt, dass auch andere, nette Menschen gibt. Hat mir gezeigt, dass ich mich auf meine innere Stärke verlassen kann und immer weiterkämpfen muss. So wie sie es gemacht hat. Wir haben zusammen mein Geheimnis erkundet, Bücher geteilt, unser Wissen und unsere Liebe. Dabei war ich weder ihr richtiges Kind, noch war ich Familie. Ich war ein einfaches Mädchen, was von zu Hause weggerannt ist, um mehr über ihre Welt zu erfahren, und was dabei fast gestorben wäre. Doch unsere Geschichte verbindet uns, machen uns zur Familie.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, als Tobias nach oben kommt und sich zu mir setzt. Mit leiser, sanfter Stimme erklärt er mir die Route, die sich die beiden Jungen ausgedacht haben und ich nicke bei manchen Punkten zustimmend. Irgendwie möchte ich ihm heute zeigen, dass ich ihm zuhöre. Wahrscheinlich ist es die melancholische Stimmung, in der ich mich gerade befinde, aber ich möchte auch nicht das er geht. Ich habe das Gefühl, das mit Gesellschaft gerade gut tut, da ich Dara immer mehr vermisse. Deswegen nicke ich auch, als er fragt, ob er weiterhin hier oben bleiben kann. Wir beobachten beide schweigend den Nachthimmel, der jetzt sogar noch stärker zu leuchten scheint. Es ist atemberaubend und es gäbe auch keine Wörter dieses Bild zu beschreiben.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt