5. Kapitel Teil 2

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«Heute ist mein 14. Geburtstag», denke ich mir, als ich gerade für Dara und mich den Frühstückstisch decke. Plötzlich fällt mir ein Teller herunter, da ich für einen kurzen Moment unachtsam gewesen bin. Sofort entschuldige ich mich bei Dara. Sie meint, dass es keine große Sache sei. Doch für mich ist es das. Ich bin wütend auf mich selbst und es ist mir auch etwas peinlich. Ich weiß, bevor ich den Schmerz spüre, dass es etwas nicht stimmt. Gerade als ich Dara rufen möchte, tritt der Schmerz ein und ich fange an zu schreien. Sofort ist sie an meiner Seite und fängt mich auf, als ich mich nach vorne krümme und fast falle. Die Schmerzen steigern sich fast zum Unerträglichen. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Es kommen auch Tränen. Dann endlich, nach einer ganzen Ewigkeit, kommt die ersehnte Ohnmacht.

Als ich wieder zu mir komme,bin ich in ein weiches Weiß gehüllt. Es sind Flügel, die mich umgeben. Ich richte mich auf. Es ist wie eine kleine Last auf meinen Schultern, woran ich mich aber langsam gewöhne. Ich bin im Wohnzimmer und Dara kommt gerade wieder herein. Doch ich nehme sie nur am Rande war. Ich sehe, wie sie den Mund öffnet und irgendetwas sagt, doch ich verstehe sie nicht. Als ich rufe: «Was hast du gerade gesagt? Ich verstehe dich nicht», merke ich, dass auch sie mich nicht hören kann. Wir sind beide in der eigenen Welt gefangen. Deswegen wende ich mich meinem Rücken zu. Die weißen Schwingen sind einfach wundervoll. Selbst,wenn ich es mir nicht wirklich eingestehen will. Doch sie werden immer mein Geheimnis bleiben müssen. Niemand darf sie sehen. Es ist wichtig,herauszufinden wann sie real werden. Es scheint eine Verbindung mit dem Tattoo auf meinem Rücken zu geben. Mit dem Tattoo, was ich schon seit meiner Geburt habe.
Die Flügel berühren mit den Spitzen den Boden und oben reichen sie mir ein Stück über den Kopf. Wahrscheinlich sind sie ausgewachsen. Sie hatten dafür ja auch 14 Jahre Zeit. Aber  natürlich kann es auch sein, dass sie noch ein kleines Stück wachsen werden. Ich denke, mit der Zeit werde ich das und noch viele andere Sachen herausfinden.

Und wenn ich ehrlich bin, habe ich in den fast drei Jahren, und am Anfang zusammen mit Dara, ziemlich viel herausgefunden. Ich weiß, dass meine Flügel aus meinem Tattoo entspringen und ich deswegen niemanden meinen Rücken zeigen darf. Ich weiß außerdem, wann sich die Flügel zeigen und wie es mit meinen Gefühlen verknüpft ist. Sie sind quasi ein Abwehrmechanismus von meinem Körper, der sich immer dann aktiviert, wenn ich meine Gefühle nicht im Griff habe und die Vergangenheit droht mich wieder einzuholen. Mittlerweile kann ich sie ziemlich gut verstecken, aber manchmal ist die Last zu groß und sie wollen raus, was ich mir nur erlaube, wenn ich ganz alleine bin.

Nach Ethik spüre ich, dass mein Rücken ziemlich angespannt ist und eine große Last mich nach unten drück. Als ich dann endlich in meinem Zimmer ankomme, erlaube ich es mir die Flügel frei zu lassen. Es fühlt sich großartig an und ein Gefühl der Vollkommenheit und Macht durchströmt mich. Freiheit, Geborgenheit sind die nächsten Wörter, die mir dazu einfallen. Doch nach nicht mal einer Minute werden diese Gefühle von Angst und Entsetzen verdrängt. Jemand klopft an der Tür, welche nicht abgeschlossen ist, weswegen die Person ohne Probleme einfach in mein Zimmer kommen könnte.
Ich versuche mich also zu beruhigen, um die Flügel wieder in meinen Rücken zu sperren. Sie wollen logischerweise nicht, aber was sein muss, muss sein. Es sind Höllenqualen die diese Prozedur begleiten, aber ich darf nicht schreien!
Es klopft wieder. Nach knapp einer Minute gehe ich zur Tür und versuche diese so gelassen wie möglich aufzumachen. Vor mir steht Tobias. Ich lasse meinen Blick kurz über ihn gleiten und schaue ihm dann aber ins Gesicht. «Was willst du?», frage ich barsch, da sich meine Nerven, von der Achterbahnfahrt meiner Gefühle, noch nicht beruhigt habe. Er schaut mich ebenfalls etwas wütend an, aber als er antwortet ist seine Stimme ruhig und neutral: «Hallo erst einmal. Ich wollte mich nur erkundigen, ob du mir vielleicht den Stoff von den letzten Tagen geben kannst. Ich war schließlich seit letzten Freitag krank und auch heute durfte ich noch nicht wieder am Unterricht teilnehmen. Ich hab schon fast alles wieder aufgeholt, nur noch ein paar Fächer fehlen mir, unter anderem die, die wir heute hatten. Die ganze Klasse hat mich zu dir geschickt, als ich sie gefragt habe. Wäre wirklich sehr nett, wenn du mir einfach die letzte Hefter Seite oder so geben könntest. Bitte.» Ich schaue ihn schweigend an. Jeder in meiner Klasse weiß, dass ich fast nie etwas mitschreibe. Zumindest nicht in Mathe, Deutsch und Ethik, die Fächer, die wir heute hatten.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt