1. Kapitel

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Nachdem man von zu Hause weggerannt ist, dabei fast gestorben wäre und aufgenommen wurde von Dara, nur um am Ende wieder Abschied von ihr zu nehmen – wer hätte da gedacht, dass es das schwierigste wäre, die neue Heimleiterin nach etwas zu fragen. Das einzige, was mich überhaupt zu ihr geführt hat, ist die Sicherheit, dass ich auf jeden Fall bekomme, was ich möchte.

Ich bin so froh, dass ich mich zusammen mit Margret alles klären konnte, noch bevor sie wegging. Margret war die frühere Heimleiterin, deren Ersatz "Mutter" Theresa war. Sie selbst hat sich den Namen gegeben und sich, zumindest bei mir, die Mühe gemacht, dass er das komplette Gegenteil ist.

Ich bin nun also in Mutter Theresas Büro, sitze ihr gegenüber und kann mich sogar zu einem kleinen Lächeln zwingen. «Ich wollte nur fragen, ob ich schon früher in die Schule gehen kann.» «Wer hat gesagt, dass DU in die Schule gehen darfst. Niemand hat es dir erlaubt», zischt die Direktorin. «Oh doch. Um genau zu sein hat das Direktorin Margret erlaubt. Sie können in meinen Akten nachschauen. Dort steht es geschrieben und die Bescheinigung ist beigelegt worden», entgegne ich zuckersüß. Sie schaut in meinen Akten nach und ihr Gesicht bekommt einen leicht wütenden Ausdruck als sie das Formular sieht. Da sie jedoch nichts sagt, fahre ich fort: «Wenn sie mich früher gehen lassen, haben sie auch etwas worüber sie sich freuen können.» «Und was soll das sein?», erkundigt sie sich. «Sie müssen mich nie wieder sehen.» Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. «Gut. Wir können mit dem Test gleich beginnen. Es stimmt. Darüber würde ich mich sehr freuen.» Ich frage mich nur, was der Grund dafür ist. Sie gibt mir einen Bogen und einen Stift. Dann soll ich die Fragen beantworten. Ich habe eine Stunde Zeit dafür. Ich weiß, dass sie mir weniger gibt als vorgesehen, aber es ist mir egal. Die Fragen sind einfach. Deswegen bin ich sogar noch früher fertig. Theresa kontrolliert ihn gleich und zufrieden stelle ich fest, dass sie bei jeder meiner Antworten blasser wird. Ich habe also richtig geantwortet. «Du hast volle Punktzahl erreicht. Herzlichen Glückwunsch. Ich werde den Fragebogen samt Antworten an diese Schule hier schicken.» Sie deutet auf einen Namen. Margret hat es zusammen mit mir für mich herausgesucht. Es war die Schule, die Dara, meine Pflegemutter, mir vor ihrem Tod gezeigt hat. Ich nicke als Antwort.

Es vergehen noch etliche Tage. Für mich sind sie quälend lang. Den ganzen Tag über warte ich nur auf das Urteil, die Post. Ablenken kann ich mich nicht wirklich gut. Mit den anderen Heimkindern habe ich nicht sehr viel am Hut. Da das einzige Kind, mit dem ich mich gut verstanden habe, schon vor langer Zeit adoptiert wurde, habe ich niemanden mehr zum Reden. Damit habe ich mich aber irgendwie abgefunden. Im Endeffekt, wollte ich mich auch mit niemanden mehr anfreunden, damit mir nicht weiter wehgetan werden kann. Denn irgendwann gehen sie alle und lassen einen damit im Stich. Egal ob gewollt oder nicht.

Doch in so einer Zeit vermisse ich auch Dara immer mehr. Immer wieder habe ich Schmerzen, und das nicht nur in meinem Herzen. Dann werde ich endlich erlöst.

Theresa lässt mich in ihr Büro rufen. Da erhalte ich den ersehnten Brief. Nun werde ich erfahren, wie mein Leben weitergehen wird. In immer weiteranhaltenden Schmerz oder vielleicht mit neuer Hoffnung? Ich öffne den Brief. Zuerst kann ich nichts lesen. Dann sehe ich die fett geschriebenen Wörter. Herzlichen Glückwunsch. Sie haben bestanden. Erst juble ich, dann lese ich den Brief weiter. Daraus erfahre ich, dass sie mit mir noch einen Einstufungstest machen wollen, weil ich noch nicht ganz sechzehn Jahre alt bin. Jedoch gleich vor Ort. Außerdem soll ich mich schon am nächsten Tag dort einfinden.
Theresa reißt mir den Brief aus der Hand und liest ihn sich durch. Dann meint sie anscheinend wenig begeistert: «Morgen muss dich da jemand hinfahren. Da kommt die Frage auf, wer das macht.» Verwirrt blicke ich sie an. Ohne mit der Wimper zu zucken erwidert sie den Blick. Ich weiß, was sie von mir erwartet. Deswegen schlucke ich meinen Stolz hinunter und frage: «Würden Sie sich bitte die Zeit nehmen, um mich dahin zu fahren?» Nachdenklich blickt sie mich an. Dann nickt sie zögerlich. «Jedoch nur, wenn wir schon sehr früh losfahren. Ich möchte so schnell wie möglich wieder hier sein. Wir werden um vier Uhr losfahren», bestimmt sie dann. «Vier Uhr morgens?», erkundige ich mich höflich. Theresa nickt und winkt mich dann mit einer Handbewegung raus. Dieser komme ich sofort nach. Bei ihr bringen Widerworte eh nichts und um ehrlich zu sein, freue ich mich auch wenn ich umso früher von hier verschwinden kann.

In meinem Zimmer fange ich an meinen Koffer zu packen. Die Sachen für den nächsten Tag lasse ich jedoch draußen. Dann werfe ich noch einmal einen Blick auf die Regeln, die es hier im Heim gibt und auf jeden Fall einzuhalten waren:

1. Jeder muss zum Essen pünktlich im Speisesaal sein.
Frühstück 09:00 Uhr
Mittag: 11:30 Uhr
Abendessen: 18:00 Uhr
2. Das Essen ist aufzuessen. Es darf nichts weggeworfen werden!
3. Nachholen ist nicht erlaubt.
4. Nichts wird gehortet! Das gilt für alle Bereiche!
5. Zu der Zimmerausstattung dürfen noch drei weitere Sachen hinzugefügt werden.
6. Bettruhe ist 22:00 Uhr. Bis zu der Zeit muss jeder in seinem Zimmer sein.
7. Die Waschsäle sind getrennt zu benutzen. Wem welcher Saal gehört, ist gekennzeichnet.
8. Von jedem Einzelnen muss noch eine Gemeinschaftsarbeit erfüllt werden. (Informationen dazu sind bei der Leitung des Hauses einzuholen)
9. Die Bibliothek ist nicht frei zugänglich.
10. Es wird nicht gelogen!
11. Es wird zu seiner Tat gestanden.
12. Wenn jemand gegen eine Regel verstößt, ist das zu melden! Die Bestrafung erfolgt dann von der Hausleitung

Klar, eigentlich sind sie nicht so wichtig. Doch besonders die letzten drei Regeln haben mein Leben hier bestimmt. Nicht, dass ich je gelogen habe, aber die Wahrheit war hier immer eine Auslegungssache. Und wenn man nicht gemocht wurde, so wurde einem hier auch nicht geglaubt. Und Theresa hat einen spüren lassen, was das für Konsequenzen sind.

Den restlichen Tag bekomme ich kaum noch mit. So weit bin ich in Gedanken bei der Schule. Selbst jede Beleidigung lasse ich ohne Reaktion über mich ergehen. Trotzdem helfe ich Esmeralda, der Köchin, wie jeden Tag in der Küche. Sie weiß schon Bescheid und lächelt mich jedes Mal an. Am Ende meines Arbeitstages umarmt sie mich sogar. «Ich wünsche dir alles Gute auf der Schule. Streng dich an und zeig ihnen was in dir steckt. Ich werde dich vermissen», säuselt sie in mein Ohr. Mir steigen leicht Tränen in die Augen. Doch schnell habe ich mich wieder unter Kontrolle. Ich darf nicht vor anderen weinen. Eine Lektion, die ich hier an einen der ersten Tage unter Mutter Theresa gelernt habe und nicht hinter mir lassen kann.

«Ich werde Sie auch vermissen», antworte ich. Nach einiger Zeit lässt sie mich los und wirft mir ein Lächeln zu. Dann fängt sie an die Küche noch etwas zu säubern. Obwohl diese schon blitzblank ist. Ihr scheint der Abschied genauso schwer, wenn nicht sogar schwerer, zu fallen als mir. Um ihm also nicht noch schwerer zu machen, gehe ich hoch in mein Zimmer. Da meine ganzen Sachen schon zusammen gepackt sind, gehe ich direkt ins Bett. Doch einschlafen kann ich erst nach ewiger Zeit.

Mein Wecker klingelt so laut, dass ich fast aus dem Bett falle. Ich mache mich fertig und packe noch die restlichen Sachen in den Koffer. Dann nehme ich diesen und mache mich auf den Weg nach unten. So leise wie möglich, um die Anderen nicht zu wecken. Unten angekommen warte ich in der Eingangshalle. Schon nach wenigen Minuten kommt Mutter Theresa dazu. Ich hatte schon gedacht, dass sie nicht kommen würde, aber sie hat ihr Wort gehalten. Ohne Umschweife geht sie zum Wagen. Sie hilft mir nicht beim einladen des Koffers. Aber um ehrlich zu sein, habe ich das auch nicht erwartet. Da mein Koffer die komplette Rückbank einnimmt, muss ich mit vorne sitzen. Doch während der ganzen Fahrt starre ich nur aus dem Fenster. Was kein Wunder ist. Worüber soll ich auch mit ihr reden? Weswegen sie mich geschlagen hat? Warum sie mich hasst? Auf diese Fragen würde ich auch ganz bestimmt eine Antwort bekommen! Zumindest nicht jetzt sofort... Vielleicht verschiebe ich es auf unseren Abschied, denn eine Antwort würde ich schon gerne erhalten.

Nach vielen quälenden Stunden sind wir endlich da. Wir steigen aus, lassen aber den Koffer im Auto. Außerdem soll ich auch dort warten, damit die Heimleiterin den Direktor holen kann. Obwohl ich weiß, dass ich das eigentlich nicht tun dürfte, setze ich mich auf die Motorhaube. Nach einer ganzen Weile, sehe ich wie zwei Leute auf mich zukommen. Doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Bleibe wie erstarrt sitzen. Erst als die Theresa und ein rundlicher Mann vor mir stehen, komme ich von der Motorhaube herunter. Theresa schaut mich deswegen wütend an. 

Der Mann, welcher sich als Direktor vorstellt, hat einen grauen Bart und kurze Haare in derselben Farbe. Dazu trägt er einen schwarzen Anzug mit roter Krawatte, was ihn sehr nobel aussehen lässt. 

Als der Direktor gerade damit beschäftigt ist meinen Koffer aus dem Auto zu heben, schlägt Theresa mich für das Sitzen auf der Motorhaube. Hoffentlich war das das letzte Mal.

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Hallo Leute :)
Das ist das erste Kapitel meiner ersten Geschichte hier auf Wattpad. Ich hoffe es gefällt euch, bitte hinterlässt gerne euer Feedback :)

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt