17. Kapitel

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Ich stehe vor einem Eichenbaum, meine Hände sind auf die Rinde gelegt. Sie ist weich und bildet einen scheinbaren Kontrast zu meinen Fingern. Endlich bin ich weg, weg von dem Haus, weg von den Anderen, denke ich mir. Es ist schon lange her, dass ich wieder allein, nur für mich, bin. Zum ersten Mal kann ich nur meine Gedanken hören und muss nicht die Gespräche meiner Klassenkameraden ausblenden. Die ganze Zeit waren wir unterwegs, ohne Pause, ohne Rast. Und die Tage, an denen ich nicht bei ihnen war, waren der reinste Horror, den ich nur verdrängen kann. Sonst würden mich meine Ängste lähmen und ich würde zerbrechen.
Ich lasse mich mit dem Rücken gegen den Baum sinken und schaue nach oben. Der Himmel ist strahlend blau, fängt aber an langsam zuzuziehen. Die Wolken, die immer grauer und bedrohlicher werden, scheinen wie ein böses Omen. Ob es bald regnen wird? Wahrscheinlich. Ich lasse meinen Blick weiter wandern und die Bäume vor mir streifen. Der Herbst hat seine Spuren an ihnen gelassen. Sie haben all ihre Blätter, ihre Farbenpracht, ihren ganzen Stolz verloren. Dennoch sind sie beständig, geduldig und warten auf den kommenden Frühling, um wieder zu erstrahlen. Sie wissen, dass sie bald wieder zu sich zurückfinden werden. Über mir erstrecken sich ihre Äste und bilden ein schützendes Dach. Mit meinen Händen fahre ich durch das immer trockner werdende Laub und das feuchte Moos auf den Wurzeln. An diesem Ort scheint alles so friedlich. Es ist, als könnte ich bald all meine Sorgen vergessen. Aber es ist eben nur ein Schein, denn es geht nicht. Die Kraft des Geschehenen ist zu stark. Allerdings kann ich vielleicht für nur diesen einen Augenblick in Ruhe sein.

Nachdem ich noch eine weitere Minute in der Position verharrt bin, stehe ich wieder auf und laufe weiter. Mit ausgestreckten Händen berühre ich die Bäume. Die weiche Rinde, den Moss, die noch übrigen Blätter. Es ist wunderschön, beruhigend. Ich spüre förmlich wie die Anstrengung aus meinen Knochen weicht und mit jedem Schritt weiter in den Boden eindringt. Unbewusst laufe ich im Kreis und komme an dem Baum raus, bei dem ich schon am Anfang gesessen habe. Doch um ehrlich zu sein, bin ich ganz froh darüber. Es zeigt, dass ich wieder zurück finde, wenn ich es denn will. Langsam will ich am Baum zurücksinken, als ich aber die Rinde berühre, passiert etwas Seltsames. Vor meinem inneren Auge sehe ich auf einmal mich selber. Es ist wie bei einem schwarzweiß Foto, nur dass einige Farben herausgefiltert sind und somit sichtbar. Es ist wunderschön. Auf dem Foto sitze ich an den Baum gelehnt und beobachte den Himmel. Meine Kleider, der Himmel und der Baum sind grau. Mein Gesicht und das Laub auf dem Boden allerdings, leuchten in intensiven Farben. Es wird ein träumerischer Eindruck vermittelt und leichte Fröhlichkeit wird ausgestrahlt. Dieses Foto kann nicht aus meinen Erinnerungen stammen, schließlich würde ich mich niemals so sehen. Doch woher kommt dieses Bild dann?
Auf einmal ändert sich das Bild und wird von einem Gemälde ersetzt. Es zeigt mich von hinten, wie ich beim Weiterlaufen eine Hand auf die Rinde eines anderen Baumes lege. Die andere Hand ist ausgestreckt, mein einer Fuß ist leicht vom Boden gehoben. Es wirkt, als würde ich im Wald tanzen. Die Zeichnung ist mit Wasserfarbe gefertigt und somit leicht verschwommen. Die Farbhervorhebungen sind die gleichen wie bei dem vorigen Bild. Außerdem scheint es so, als würde der Wind durch meine Haare fahren. Damit wird das Bild von dem Tanzenden-Ich hervorgehoben und alles wirkt viel lebendiger.
Es folgt ein weiterer Szenenwechsel. Auch diesmal stehe ich wieder im Mittelpunkt. Um genau zu sein, ist nur mein Gesicht zu sehen. Meine Augen stehen offen, blicken aber nach links. Es ist als hätte ich etwas entdeckt was mich in der Ferne interessiert. Meine Iris ist braun, welches nach außen hin ganz leicht ins rote übergeht. Kein leuchtendes Rot, eher ein Dunkles, sodass man es nur erkennt wenn man genau hinschaut. Selbst mein Mund zeigt einige Gefühlsregungen. Es liegt zwar kein Lächeln auf ihm, trotzdem verleiht er das Gefühl ich sei glücklich. Meine Wangen sind rötlich vom Laufen und ich wirke lebendig. Das Braun meiner Haare sticht richtig heraus und bildet somit einen starken Kontrast zu meiner weißen Haut. Allerdings wird dieser Braunton mit meiner Augenfarbe ausgeglichen. Diesmal sind auch keine Farben gefiltert, sodass alles wie ein normales Foto wirkt. Es ist wirklich schön, auch wenn ich zu sehen bin. Was mich verwirrt sind die Gefühle, die mit diesem Bild in Verbindung zu stehen scheinen. Es wird Verbundenheit, Neugier, Glück und Sehnsucht ausgestrahlt. Woher kommen diese Bilder und wessen Gefühle sind das? Ich bin nun vollends verwirrt. Dann verblasst das Bild was ich sehe und stattdessen ist alles wieder wie vorher.

Das Mädchen mit den EngelsflügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt