Langsam kam der Sommer und zum ersten Mal seit Monaten konnte ich ohne Jacke aus dem Haus gehen. Der Friedhofswärter sah mich an, als hätte ich vor die Leiche auszugraben, als ich mit einem Strauß Blumen unterm Arm nach Mr Mortimers Grab fragte. Und als ich dann den Hügel hinaufstapfte und das frische Grab mit eigenen Augen sah, begriff ich zum ersten Mal seit Tagen, dass Mr Mortimer wirklich für immer fort war. Dass ich keine Chance mehr haben würde, mich bei ihm zu entschuldigen. Sorgfältig legte ich den Blumenstrauß vor den Grabstein und versuchte vergebens, nicht zu weinen.
„Mr Mortimer?", flüsterte ich und wischte mir die Tränen weg. „Wenn Sie mich hören können, dann möchte ich Ihnen nur sagen, dass es mir schrecklich Leid tut. Und dass Sie Recht hatten, mit allem. Mit meinem Studium und mit Lewis. Und was Karan betrifft..."
Ich atmete tief durch. „Warum haben Sie mich einfach zurückgelassen? Ich brauche Sie! Warum sind Sie einfach gestorben, verdammt?"
Dann setzte ich mich auf den Boden, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte um all die Tage, die wir noch gehabt hätten, wenn ich nicht so stur und ängstlich gewesen wäre.
Ich spürte seine Anwesenheit bevor ich ihn sah. Karan stand weniger Meter von mir entfernt und sah mich an. Mit steifen Gliedern rappelte ich mich auf und starrte ihn an. Mein Körper wollte einfach nur zu ihm, ihn in den Arm nehmen, von ihm berührt werden. Aber sein Gesichtsausdruck war so distanziert, dass ich nicht wagte, irgendetwas zu tun. Ich stand nur da und wartete darauf, dass er etwas sagte oder tat. Nach einer gefühlten Ewigkeit, kam er ein paar Schritte auf mich zu.
„Karan", begann ich, wusste aber nicht, wie ich den Satz beenden sollte. Er sah mich an, sein Blick wurde sanfter, trauriger, vorwurfsvoller.
„Was machst du hier?", fragte er dann mit kratziger Stimme und ich musste schwer schlucken. Ich hatte nicht gedacht, dass er so wütend auf mich sein würde.
„Was glaubst du wohl? Du bist nicht der Einzige, dem er etwas bedeutet hat."
„Aber anscheinend nicht genug. Sonst hättest du ihn ja wohl kaum verlassen. Einfach so." Ich ging einen Schritt auf ihn zu, wagte aber immer noch nicht, ihn zu berühren. Er sah mich nur an, ich konnte seinen Blick nicht deuten.
„Karan, bitte. Du weißt, dass das alles nicht so einfach war." Ich streckte mein Hand nach ihm aus, doch er drehte sich weg, fuhr sich mit den Händen verzweifelt durch die Haare und fluchte. Dann drehte er sich wieder zu mir und sah mich mit geröteten, glasigen Augen an.
„Und wo warst du? Als er krank wurde und seinen Laden aufgeben musste? Wo warst du, als er im Sterben lag? Wo warst du, als er dich gebraucht hat, Moira? Als ich dich gebraucht habe!" Den letzten Satz flüsterte er und sah mich so traurig an, dass mein Herz sich zusammenzog. Doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Warum bist du hier, Moira? Ich dachte du hättest dich entschieden."
„Das habe ich", antwortete ich und er schnaufte verächtlich, rammte seinen Fuß in den Boden und drehte den Kopf weg. „Lewis wohnt jetzt allein. Ich habe das Studium abgebrochen. Ich wünschte nur, ich hätte früher den Mut gehabt."
Verwirrt sah er mich an. Und dann, endlich, kam er die letzten Schritte auf mich zu und schlang seine Arme um mich. Ich drückte meinen Kopf in sein T-Shirt und atmete seinen vertrauten, zimtigen Geruch ein. Er hielt mich so fest an sich gedrückt, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam, doch ich ließ ihn.
„Ich schaffe das einfach nicht, Moira", flüsterte er und ich strich ihm behutsam über den Hinterkopf. „Ich kann das nicht ohne ihn. Nicht allein."
„Schon gut. Du bist nicht allein, Karan", sagte ich und hörte mich zuversichtlicher an, als ich war. Er drückte mich noch fester an sich, so als hätte er Angst davor, mich loszulassen.
„Du hast mich verlassen", sagte er und ich schüttelte den Kopf.
„Jetzt bin ich hier", antwortete ich und schob ihn ein bisschen weg, um ihn ansehen zu können. Seine Wangen waren eingefallen und seine Augen wirkten riesengroß, während er mich vorsichtig musterte. Unsicher schob ich meine Hand an seine Wange uns streichelte mit dem Daumen die dünne Haut unterhalb seiner Augen.
„Jetzt bin ich hier."
Er drehte den Kopf, sah auf meinen Blumenstrauß vor den Grabstein und trat einen Schritt zurück. Ich wollte am liebsten wieder zurück in die Umarmung, aber dann bemerkte ich, dass er in seinem Rucksack kramte.
„Ich muss dir noch etwas geben", sagte Karan schließlich und hielt mir ein Buch entgegen. Zögerlich nahm ich es und musste schwer schlucken. Mr Mortimers Geschichten. In einem richtigen Buch mit dunkelblauem Einband und einem stilisierten Schmetterling oben rechts in der Ecke. Erstaunt sah ich Karan an, der schief lächelte, wenn auch sehr traurig. „Es ist drei Tage vor seinem Tod erschienen. Das ist eines der wenigen Exemplare, die er signiert hat."
„War er sehr enttäuscht von mir?", fragte ich dann, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen, weil ich die Antwort zu sehr fürchtete.
„Nein, Moira. Er war einfach traurig, dass du nicht mehr zurückgekommen bist. Lies die Widmung."
Unsicher sah ich ihn an, doch er nickte nur ermutigend und ich schlug die erste Seite auf.
FÜR MEINE UNGEWÖHNLICHE FREUNDIN MOIRA MCKENZIE.
Und darunter hatte er unterschrieben, mit der krakeligen Schrift, die ich so gut kannte.
„Was machst du jetzt, wo du nicht mehr studierst?", fragte Karan und kam näher zu mir. Unwillkürlich griff ich nach seiner Hand und nach kurzem Zögern verschränkte er seine Finger mit meinen.
„Ich weiß es nicht. Ich werde wohl etwas Zeit brauchen, um etwas zu finden, das ich wirklich möchte."
„Aber du rennst nicht wieder weg, oder? Du bleibst bei mir?"
Ich sah ihm direkt in die Augen und nickte, bevor er mich wieder an sich zog und sich von mir trösten ließ.
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Mr Mortimer
Teen FictionEigentlich wollte Moira nur schnell ein Buch für ihr Jurastudium kaufen, doch der schräge alte Mann und sein vollgestopfter Buchladen lassen sie einfach nicht los. Mr Mortimer und sein gutaussehender, theaterbegeisterter Enkel schaffen es, Moira in...