Als ich ein Kind war, habe ich einen undurchdringlichen Dschungel erforscht, auf der Suche nach alten, vergessenen Kulturen. Ich war Kapitän eines Piratenschiffs, habe unter Wasser atmen können und bin auf Daumengröße geschrumpft, um mit den Mäusen im Keller zu leben. Alles an einem einzigen Tag.
Damals dachte ich, ich könnte alles machen, was ich möchte. Dass meine Abenteuer als Erwachsener zehntausendmal aufregender werden würden, meine Geschichten noch wilder, wundervoller und ergreifender.
Ich hätte mir niemals ausmalen können, dass das Leben anders sein könnte als so magisch und aufregend, wie ich es mir früher immer vorgestellt hatte.
Und dann wurde ich erwachsen und die dummen, kindischen Geschichten blieben in meinem verwinkelten Kinderzimmer mit der geblümten Tapete, während ich auszog, um ein richtiges, reales Leben zu leben.
*
„Und du bist dir sicher, dass du mit Lewis zusammenziehen möchtest?", fragte Zoe mit einem skeptischen Gesichtsausdruck. Manchmal glaubte ich, ihr zweifelnder, skeptischer Ausdruck wäre ihr von einem heimtückischen Bekannten aufs Gesicht geklebt worden, als sie noch ein Baby war und unsere Eltern gerade nicht hingesehen hatten.
„Wir sind jetzt schon fast zwei Jahre zusammen, Zoe", erwiderte ich und trampelte auf dem leeren Umzugskarton herum. „Außerdem bin ich jetzt schon eingerichtet, es wäre doch unnötige Arbeit, wenn ich jetzt entschiede, doch noch klein beizugeben."
„Ich weiß ja nicht. Ich finde es irgendwie nicht richtig, dass du schon ausziehst und erwachsen wirst. Du bist schließlich meine kleine Schwester."
Ich verdrehte grinsend die Augen. „Ich kann ja nicht mein Leben lang klein bleiben, Zoe. Auch deine kleine Schwester wird mal erwachsen."
„Früher hast du immer gesagt, du wirst niemals erwachsen werden, weißt du noch?", fragte sie mit einem breiten Lachen. Sie wusste genau, wie sehr ich es hasste, wenn sie von unserer Kindheit redete. Spezifisch von mir und meinen dummen Einfällen und Spielen, bei denen sie nie richtig mitmachen wollte. Oder konnte.
„Da war ich noch ein Kind. Ich hatte keine Ahnung vom Leben."
„Ich hatte immer den Eindruck, du wüsstest genau, was du willst."
In dem Moment öffnete sich die Tür zu meiner neuen Wohnung und ein blonder Lockenkopf schob sich zur Tür hinein.
„Oh, hallo Zoe!", begrüßte Lewis meine Schwester mit einem schüchternen Lächeln und schob die dicke, schwarze Brille hoch. „Ich wusste nicht, dass du heute auch hier sein würdest."
„Wieso auch?", fragte ich und sah Lewis erwartungsvoll an. Er kam in die Küche geschlendert, ein dickes Buch über Rechtswissenschaften im Arm.
„Weil wir doch heute mit deinen Eltern essen gehen wollten, hast du das etwa schon wieder vergessen, Schatz?"
Ich grinste blöd, als er das sagte, Zoe beäugte mich nur mit ihrer festgewachsenen, gerunzelten Stirn.
„Ich gehe nicht mit, ich muss noch lernen für meine Prüfungen nächste Woche", antwortete sie und rutschte von der Küchenzeile. „Wir sehen uns dann bei Papas Geburtstag?"
Ich nickte und ignorierte das beklommene Gefühl in meinem Magen. Familientreffen, gleich zwei in zwei Wochen. Juhu. Was gab es Besseres?
*
„Wie läuft das Studium, mein Junge?", fragte mein Vater und lehnte sich zurück, wobei er den Arm um meine Mutter legte und ihr dabei beinahe die Gabel aus der Hand geschlagen hätte. Sie warf ihm einen kritischen Blick über den Rand ihrer teuren Brille zu und zog die perfekt gezupfte Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
„Ganz gut so weit. Es ist natürlich recht anspruchsvoll und es gibt sehr viel, was man lernen muss, aber das weiß man ja auch vorher schon", antwortete Lewis, der neben mir direkt meinem Vater gegenüber saß.
„Die harte Arbeit wird sich auszahlen, Lewis", sagte mein Vater. Er hatte seinen Vortragston angeschaltet, wie immer, wenn es ums Studium oder die Arbeit ging.
„Ich habe hart gearbeitet, jeden Tag alles gegeben und eines Tages hat es sich bezahlt gemacht. Und man siehe da, heute bin ich Inhaber einer der erfolgreichsten Firmen der ganzen Stadt, habe eine der erfolgreichsten Hotelmanagerinnen zu Frau und meine beiden Töchter werden bald eine erfolgreiche Versicherungsmathematikerin und Anwältin sein. Nicht wahr, Moira?"
Ich blickte von meinem Teller Kartoffelbrei auf, in welchen ich seit den letzten halben Stunde dieses Essens mit der Gabel kleine Figuren eingezogen hatte.
„John, sie hat doch gerade erst mit dem Studium angefangen", sagte meine Mutter ermahnend und schenkte mir ein amüsiertes Lächeln mit einem flüchtigen Blick auf meinen zerwühlten Brei.
„Ja und? Deshalb kann man doch trotzdem schon wissen, ob man einmal ein erfolgreicher Anwalt sein wird oder nicht, hab ich nicht recht, Lewis?"
„Ich stimme dir vollkommen zu", antwortete Lewis und ich biss mir auf die Zunge, um nichts Schnippisches zu erwidern. Denn das Studium machte alles andere als Spaß.
„Naja, es gibt sehr viel, das ich lesen muss", sagte ich stattdessen. „Die Bücher sind nicht gerade dünn."
„Aber du liest doch so gerne, Schatz", sagte meine Mutter und wischte vorsichtig mit der Stoffserviette über ihren Mund, um den Chanel-Lippenstift nicht zu verwischen.
„Dicke Wälzer über Gerichtswissenschaften und Gesetzte zählen nicht unbedingt zu den Büchern, die ich gerne lese, Mama", entgegnete ich. Allein der Gedanke an die drei dicken Monster, die auf meinem neuen Nachttisch lagen und dort mein Exemplar von Anna Karenina zerquetschten und bis zum Ende dieser Woche gelesen werden mussten, genügte, dass ich mein Gesicht am liebsten in den Kartoffelbrei hätte fallen lassen.
„Ach papperlapapp", sagte mein Vater streng und richtete sich im Sitzen auf, sodass seine muskulöse Brust das gebügelte Hemd ausfüllte und beinahe zum Platzen brachte. „Solche Bücher sind die richtigen für dich, Moira. Mit all dem Firlefanz verdreht man den Kindern nur den Kopf. Vergiss deine alten, muffeligen Bücher."
„Es ist Literatur, John. Nicht viele Kinder interessieren sich dafür", unterbracht meine Mutter ihn ruhig und legte ihm besänftigend ihre schlanke Hand auf den Unterarm.
„Und das hat auch einen Grund, Liebling", antwortete er, mit deutlich weniger strengem Ton als zuvor. „Mit Literatur lässt sich kein Geld verdienen. Es ist Verschwendung wertvoller Zeit, die man ohnehin schon nicht hat. Nicht wahr, Lewis?"
„Ja, du hast vollkommen Recht."
*
Spät abends lag ich neben Lewis in unserem neuen Bett in unserem halb eingerichteten Schlafzimmer und lauschte dem leisen Rascheln des Papiers von seinem tonnenschweren Gesetzbuch, in dem er jeden Abend las, und starrte an die Decke.
Das kleine Licht auf Lewis' Nachttisch flackerte ab und zu und warf wirbelnde, tanzende Schatten an die weiße, leere Wand.
„Wo starrst du denn die ganze Zeit hin, Moira?", fragte Lewis und strich mir vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich hob einen Finger und deutete an die Decke.
„Siehst du, der eine Schatten sieht aus wie ein heulender Wolf", flüsterte ich mit einem leisen Lächeln. Stille, Lewis nahm seine Hand zurück, um das Buch mit einem lauten Knall zuzuklappen.
„Ich sehe da nichts."
Er schaltete das Licht aus und ließ den Wolf verschwinden. Dann gab er mir einen Kuss und rollte sich in die Bettdecke ein. Ich tat es ihm gleich und schloss die Augen, versuchte meine Enttäuschung zu vergessen.
„Ist ja auch nicht so wichtig", murmelte ich. Nur war es das wirklich nicht?
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Mr Mortimer
Novela JuvenilEigentlich wollte Moira nur schnell ein Buch für ihr Jurastudium kaufen, doch der schräge alte Mann und sein vollgestopfter Buchladen lassen sie einfach nicht los. Mr Mortimer und sein gutaussehender, theaterbegeisterter Enkel schaffen es, Moira in...