„Ihre Geschichten sind immer so traurig", sagte ich und reichte Mr Mortimer sein Notizbuch zurück.
„Das Leben ist traurig."
„Nein, ist es nicht. Sie sind nur ein verbitterter alter Mann."
„Und du bist ein verkorkster, irrational handelnder Teenager. Geh und beschwere dich bei unserer Gesellschaft."
Wie so unzählige Male zuvor, saßen Mr Mortimer und ich in seinem Laden auf dem Sofa in der Ecke, mit einem Tablett Kekse und Tee und lasen oder erzählten uns gegenseitig Geschichten. Es war eine Ruhe, die es Zuhause nie gegeben hatte, weil meine Eltern immer auf Zack waren und arbeiten mussten. Deshalb genoss ich die Zeit mit ihm umso mehr.
„Wo ist eigentlich Karan?", fragte ich nachdem ich schweigend einen Keks in meinen Tee getunkt hatte.
„Siehst du!", rief Mr Mortimer und zeigte mit der faltigen, zittrigen Hand auf mich. „Irrational."
„Was soll daran denn irrational sein? Ich habe doch nur gefragt, wo er ist. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Das nennt sich Höflichkeit."
„Das nennt sich Verknalltheit", sagte er. Ich fühlte mich ertappt, wollte aber gleichzeitig nicht, dass er sah, dass er Recht hatte.
„So ein Blödsinn. Ich habe einen festen Freund, haben Sie das etwa schon vergessen?", sagte ich deshalb.
„Du meinst den Jungen, den du seit Wochen aus dem Weg gehst und belügst? Hört sich für mich nicht nach einer hübschen Beziehung an." Ich setzte mich aufrecht hin und stellte die Teetasse ab.
„Das heißt noch lange nicht, dass Lewis mir nichts bedeutet", erwiderte ich und sah ihn vorwurfsvoll an.
„Das habe ich auch nie behauptet, Moira", sagte er und legte eine Hand auf meinen Unterarm. Sein Ton war nicht mehr so vorwurfsvoll, offenbar hatte er gemerkt, dass er bei mir einen wunden Punkt getroffen hatte. Noch wunder, als der Punkt mit meinen Eltern und dem Studium. Denn anders als die Erwartungen meines Vaters oder das Jurastudium, wollte ich Lewis nicht loswerden oder ihn verletzten.
„Außerdem hätte Karan doch überhaupt keine Zeit für eine Freundin. Er liebt das Theater, und das schreckt die Mädchen ab. Das hat er selbst gesagt", antwortete ich niedergeschlagen und ließ mich wieder in die Kissen sinken.
„Dich hat es nicht abgeschreckt", bemerkte Mr Mortimer uns sah mich lange an, ohne, dass ich seinen Blick erwidern konnte.
„Es ist kompliziert. Das müssten Sie doch am besten verstehen. Sie schreiben doch ständig darüber."
„Ja, wie gesagt, das Leben ist traurig", sagte Mr Mortimer und tätschelte meine Hand.
Genau in diesem Augenblick wurde Karan vom letzten Frühlingsschneesturm in den Laden geweht. Als er uns entdeckte, strahlte er uns an und kam herübergestapft. Ich dachte an Lewis und seinen verletzten Gesichtsausdruck, als er gefragt hatte, ob es jemand anderen gab. Deshalb zwang ich mich, Karan nicht anzusehen und starrte stattdessen auf die Porzellantasse.
„Hey! Was sitzt ihr hier so traurig herum? Ist etwas passiert?", fragte Karan und setzte sich mir gegenüber auf den alten Schemel.
„Nein, es ist leider nichts passiert", antwortete Mr Mortimer und sah mich eindringlich an. Und er hatte ja Recht, es lag an mir, endlich etwas zu tun und mit meiner Familie zu reden. Ächzend stand er auf und schlurfte hinter den Tresen, wo er neuen Tee aufsetzte und ließ Karan und mich allein in der Ecke zurück.
„O-kay", sagte Karan und runzelte verwirrt die Stirn. „Manchmal verstehe ich euch zwei wirklich nicht."
Ich sah zu Mr Mortimer, der mich auffordernd ansah. Wenn es nach ihm ginge, müsste ich sofort aufstehen und zu Lewis rennen, um ihm alles zu erklären. Auch von den Gefühlen für Karan, die dieser wahrscheinlich gar nicht erwiderte.

DU LIEST GERADE
Mr Mortimer
Novela JuvenilEigentlich wollte Moira nur schnell ein Buch für ihr Jurastudium kaufen, doch der schräge alte Mann und sein vollgestopfter Buchladen lassen sie einfach nicht los. Mr Mortimer und sein gutaussehender, theaterbegeisterter Enkel schaffen es, Moira in...