Mein Vater hatte immer gerne Leute um sich. Er genoss es, für seine Errungenschaften bewundert zu werden und Komplimente waren ihm das liebste Geschenk. Dennoch prahlte er nicht mit seinem Geld. Das hatte er auch gar nicht nötig, denn es genügte, seine Bekannten und Freunde in sein großes Landhaus einzuladen, sie ihre Autos neben seinen teuren Oldtimern parken zu lassen und ihnen anschließend seine hübschen, teuer bekleideten Töchter und seine elegante, mit Diamanten behängte Frau vorzustellen.
Die Komplimente kamen dann von ganz allein. Zusammen mit den neidischen Blicken.
Und eben weil mein Vater es so liebte, nutze er jede sich bietende Gelegenheit, um ein großes Fest zu veranstalten, mit so vielen Gästen wie möglich. Feiertage, Abschlüsse, Geburtstage. So wie sein 56. Geburtstag heute.
Ich saß neben Lewis auf dem schicken Sofa im Wohnzimmer und tat so, als würde ich zuhören. Lewis hielt zwar meine Hand, aber seine Aufmerksamkeit galt eher meinem Vater, der gerade wieder damit prahlte, dass seine Töchter so gut mit ihrem Studium vorrankamen. Wenn er nur wüsste.
„Zoe ist die Beste ihres Semesters, nicht wahr, Liebes?", fragte er meine Schwester und alle Blicke richteten sich auf sie. Sie saß gelassen in einem Sessel in der Ecke und nippte an ihrem Weinglas.
„Ja, es ist toll. Es macht mir unglaublich viel Spaß, zudem fällt es mir sehr leicht. Da kann ich nur von Glück reden, nicht jeder fühlt sich so wohl in seinem Studium wie ich." Ihr Blick lag schwer auf mir und ich schluckte. Doch niemand schien die Anspielung zu bemerken.
„Und bei dir, Moira?", fragte mein Onkel und beugte sich vor, um mich anzusehen. Schnell richtete ich mich auf.
„Es ist gut", sagte ich stotternd. Lewis drückte meine Hand fester und sah mich fragend an.
„Nur gut? Mehr kriegen wir davon nicht zu hören? Erzähl doch mal, wir möchten wissen, wie es dem Nesthäkchen ergeht, so ganz allein in der Stadt", forderte mein Onkel mich auf.
„So allein bin ich ja glücklicherweise nicht", erwiderte ich und blickte Lewis an, der mir ein breites Grinsen schenkte. „Das Studium läuft großartig", log ich und spürte Zoes skeptischen Blick auf mir, doch ich sah sie nicht an. „Ich muss mich natürlich erst einmal umgewöhnen, aber es macht mir sehr viel Spaß."
„Natürlich tut es das", sagte mein Vater und legte stolz seine große Hand auf meine Schulter. „Ich wusste doch sofort, dass wir den richtigen Studiengang für dich herausgesucht hatten."
„Das ist wahr", pflichtete meine Tante ihm bei. „Wenn es keinen Spaß macht, sollte man es lieber nicht anfangen."
„Aber Spaß ist nicht der einzige Faktor. Wenn ich nur nach Spaß gegangen wäre, wären wir jetzt auch nicht da, wo wir sind. Nicht wahr, Lewis?"
„Da hast du recht, John", sagte er, wie aus der Pistole geschossen. Plötzlich fühlte sein Händedruck sich unangenehm an, die schwere Hand meines Vaters auf meiner Schulter drohte mich zu zerdrücken und die ganze Zeit spürte ich Zoes Blick auf mir wie ein gigantischer Scheinwerfer.
„Bitte entschuldigt mich kurz", sagte ich schnell und stürmte aus dem Zimmer, um dem Druck zu entkommen.
Obwohl es viel zu kalt war, stellte ich mich auf die Terrasse, um etwas Luft zu schnappen. Ich atmete mehrmals tief durch, bevor ich mich besser fühlte. Was war nur los mit mir? Seit ich das Studium begonnen hatte, war ich noch kratzbürstiger und empfindlicher als sonst. Außerdem hatte ich kaum noch Zeit für mich selbst, weil die Hausaufgaben und die Bücher, die ich für die Vorlesungen lesen musste, mir ständig im Nacken saßen. Und Lewis, natürlich, dem alles so leicht zu fallen schien und der nicht verstand, warum ich so mit den Aufgaben kämpfte. Wenn es keinen Spaß macht, sollte man es lieber nicht anfangen, hatte meine Tante gesagt. Was für eine lächerliche Aussage. Wenn man sich nicht quält, kann man im Leben auch nichts erreichen. Und nur wenn man etwas erreicht hat, kann man glücklich sein. War es nicht so? War Mr Mortimer weniger glücklich als mein Vater, weil er im Leben nicht mehr erreicht hatte, als den kleinen Buchladen aufzubauen?
Mein Kopf schwirrte und ich stand völlig neben mir, während ich zwanghaft nach einer Ausrede suchte, um nicht zuzugeben, was ich insgeheim schon längst wusste.
Als ich zurück ins Wohnzimmer gehen wollte, stieß ich mit meiner Mutter zusammen, die aus dem kleinen Arbeitszimmer kam. Trotz ihres aufwendigen Make-ups und dem eleganten Kleid konnte ich sehen, wie müde sie war.
„Oh, Moira, mein Schatz", sagte sich und lächelte erschöpft. „Was machst du denn hier draußen?"
„Ich habe nur ein bisschen frische Luft geschnappt", sagte ich uns musterte sie fragend. „Hast du bis jetzt noch gearbeitet?"
Sie seufzte und strich mir sanft über die Wange. „Weißt du, manchmal ist die Arbeit zu wichtig, als dass man sie aufschieben könnte. Aber das wirst du auch selbst noch verstehen, wenn du einmal Anwältin bist."
Ich runzelte die Stirn und sie lächelte sanft.
„Wir sind alle sehr stolz auf dich, Moira. Das weißt du doch, nicht wahr? Wahnsinnig stolz auf das, was du schon alles geschafft hast."
Ich schluckte schwer und musste mich bemühen, nicht auszusprechen, was mich auf einmal wie ein Blitz traf. Die Wahrheit war, dass ich nichts geschafft hatte, denn ich gab mir keine Mühe. Das Studium machte mir keinen Spaß. Und was vielleicht noch viel wichtiger war, ich wollte keine Anwältin werden. Eigentlich wollte ich das nie. Alles was ich meinen Eltern über mein Studium erzählte war eine Lüge. Ich belog meine Familie. Ich belog Lewis. Und was vielleicht noch viel wichtiger war, ich belog mich selbst.
Ich stand vor dem Badezimmerspiegel und starrte mich an. Wie hatte es so weit kommen können, dass ich nicht das machte, was ich immer machen wollte? Wieso wollte ich lieber sein wie Mr Mortimer, obwohl das gegen alles sprach, was meine Eltern sich für mich wünschten?
„Wenn man sich zu lange die Haare bürstet, können sie auch ausfallen, weißt du?", sagte Lewis plötzlich und ich blinzelte mich zurück in die Realität. Wie lange hatte ich hier gestanden und meine Haare gebürstet? Verlegen legte ich die Bürste weg und drehte mich zu Lewis um. Er stand im Türrahmen und sah mich prüfend an.
„Ist alles in Ordnung mit dir?"
„Ja", sagte ich, vielleicht etwas zu schnell. „Was sollte los sein?" Lewis schob sich seine dicke Brille tiefer ins Gesicht und kam in seinen Plüschpantoffeln langsam zu mir geschlurft.
„Du warst heute so ruhig, hast kaum etwas gesagt, wenn deine Eltern dich etwas gefragt haben. Besonders wenn es ums Studium ging. Sicher, dass du nicht über etwas reden möchtest? Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, Mo."
Ich lächelte und legte ihm eine Hand auf die Wange. Seine blonden Bartstoppeln kitzelten meine Handfläche.
„Es ist alles gut. Ich war heute nur etwas müde, das ist alles." Schon wieder eine Lüge. Doch warum könnte ich ihm nicht erzählen, was mich bedrückte? Ich verstand mich selbst nicht mehr.
Lewis legte seine schmächtigen Arme um meine Taille und hob mich hoch. Ich kicherte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann taumelte er mit mir durch den Flur zu unserem Schlafzimmer, das endlich vollständig eingerichtet war, und ließ sich mit mir auf das Bett fallen.
„Ich liebe dich, Mo", flüsterte er mir ins Ohr und ich grinste blöd.
„Ich dich auch."
„Ich muss morgen übrigens nochmal in die Uni, habe da ein Gespräch mit meinem Professor. Es wird wahrscheinlich den ganzen Tag dauern", murmelte er, schon fast eingeschlafen. Es war gut, dass er die Augen geschlossen hatte, denn so konnte er meine Enttäuschung nicht sehen.
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Mr Mortimer
Roman pour AdolescentsEigentlich wollte Moira nur schnell ein Buch für ihr Jurastudium kaufen, doch der schräge alte Mann und sein vollgestopfter Buchladen lassen sie einfach nicht los. Mr Mortimer und sein gutaussehender, theaterbegeisterter Enkel schaffen es, Moira in...