Tag 31 einer ungewöhnlichen Freundschaft

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Zwei Zentimeter trennten den alten Goldstern auf der Spitze des prächtigen Weihnachtsbaumes von der Decke der großen Halle im Landhaus meiner Eltern. Daneben, klein und unscheinbar verglichen mit dem glitzernden Lametta und den glänzenden Kugeln, standen meine Schwester und ich in unseren teuren Kleidern und begrüßten die Verwandten, die in Scharen durch die Tür strömten. Ich hatte das Gefühl, dass mein Vater das Haus jedes Jahr pompöser aussehen ließ, als es ohnehin schon war. Als Kind hatte ich es geliebt, hatte mich gefühlt wie ein eine Prinzessin in einem fernen Weihnachtsland. Heute fand ich es nur noch übertrieben.

„Hast du denn jetzt endlich ein Geschenk für Mama gefunden?", flüsterte Zoe mir zu und ich nickte. Überrascht sah sie mich an.

„Ich habe lange nachgedacht", antwortete ich, nachdem ich dem wahrscheinlich hundertsten Gast die Hand geschüttelt hatte. „Ich saß die ganze Nacht wach und habe ihr ein kleines Gedicht geschrieben. Außerdem möchte ich sie ins Theater einladen."

„Ins Theater?", fragte sie skeptisch und ich verdrehte grinsend die Augen.

„Ja. Wir sind früher immer zusammen gegangen. Außerdem hat ein Freund von mir uns Karten besorgen können, für ein Stück, das eigentlich schon ausverkauft war."

„Du hast einen Freund am Theater?" Zoe sah überhaupt nicht überzeugt aus. Natürlich. Bis vor wenigen Tagen hatte ich schließlich noch keinen Freund am Theater gehabt. In diesem Moment hätte ich ihr liebend gerne von Mr Mortimer und Karan erzählt. Doch ich hielt den Mund. So wie ich es immer tat.

„Moira, wie laufen die Vorbereitungen für die Prüfungen?", fragte mein Vater am Essenstisch, vor allen Gästen. „Du bis bestimmt andauernd nur am Lernen, oder?"

„Ja, es ist schon sehr stressig", gestand ich und wünschte, Lewis wäre hier bei mir, um mich zu unterstützen. Ihm machte es Spaß, sich mit meinem Vater über das Studium zu unterhalten. Aber er war über Weihnachten zu seiner Familie an die Küste gefahren.

„Moira ist kaum noch Zuhause", sagte Zoe plötzlich. Ich zuckte erschrocken zusammen und starrte sie entgeistert an. „Wahrscheinlich liest sie sich in der Bibliothek die Augen wund."

Ich entspannte mich wieder. Dann biss ich mir selbst auf die Zunge. Es konnte doch nicht sein, dass ich solche Angst davor hatte, meiner Familie zu gestehen, was ich eigentlich den ganzen Tag machte.

„So ist es richtig", sagte mein Vater mit vor Stolz geschwollener Brust. „Fleiß und Schmerz werden sich auszahlen, Moira. Wenn du so weiter machst, wirst du sehr erfolgreich werden!"

Wenn ich so weiter machte, würde ich sie alle bitter enttäuschen.

Am späten Abend, als die meisten Gäste schon gegangen waren, schlichen Zoe und ich auf den Dachboden. Sie suchte nach ihrer alten Facharbeit, die sie irgendwo unter den Staubschlössern vergraben hatte, als sie dachte, es nie wieder zu brauchen. Manchmal hatte es seine Vorteile, dass meine Mutter kaum etwas wegwarf.

„Passt doch bitte auf, du wirbelst den ganzen Staub auf, Zoe", meckerte ich und unterdrückte ein Niesen.

„Es muss doch hier irgendwo sein", murmelte sie und ignorierte mich.

„Ich schaue mal da hinten nach", sagte ich, doch ich bekam keine Reaktion von ihr. Mit einem Seufzer krabbelte ich in die dunkle Ecke und stellte die altmodische Lampe neben mir auf den dreckigen Boden. Doch schon als ich die erste staubige Kiste öffnete, stockte mir der Atem. Da waren sie. Fein säuberlich gestapelt und mit dünnem Faden zusammengebunden. Meine Geschichten.

Ich wusste noch genau, wie ich sie zusammen mit meiner Mutter auf den Dachboden verbannt hatte. Damals, als mein Vater mir erfolgreich ausgeredet hatte, dass Schriftstellerei niemals mehr als ein unnützes Hobby sein könnte.

Mit zitternden Händen hob ich die Bündel aus dem Karton. Meine Geschichten waren kurz und meistens nicht sonderlich gut ausgearbeitet. Die Figuren zum Großteil einfach und vorhersehbar. Aber es waren meine Geschichten. Und ich fühlte mich plötzlich so stolz auf jedes dumme Detail dieser Geschichten, wie mein Vater wohl immer stolz sein musste, wenn er von seiner erfolgreichen Familie berichtete.

„Mo? Hast du es gefunden? Hallo? Antwortest du mir auch mal?"

Ich drehte mich um und blickte direkt in Zoes kritisch-genervtes Gesicht.

„Schau mal, was ich gefunden habe", flüsterte ich und sie krabbelte näher zu mir. Mit großen Augen nahm sie mir ein Bündel aus der Hand und blätterte es durch. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf ihren schmalen Lippen aus.

„Das war eine meine Lieblingsgeschichten von dir. Die, wo das Mädchen so laut schreit, dass ihr Gefängnis einstürzt."

Jetzt war ich diejenige, die sie mit skeptischem Blick ansah. „Zoe, du hast meine Geschichten doch nie gemocht."

Sie schüttelte den Kopf und blätterte durch die nächste meiner alten Geschichten. „Ich mochte sie sogar sehr gerne. Es war nur..." Sie sah mich mit großen Augen an. „Ich war immer neidisch auf dich."

Mein Mund klappte auf und wieder zu. Zoe, neidisch auf mich? Das war lächerlich.

„Aber warum? Du warst doch immer die Beste in allem. Du bist genau so, wie Papa sich seine Kinder wünscht. Deshalb war ich oft eifersüchtig auf dich, Zoe. Du konntest immer so logisch und rational denken. Und in der Schule ist Mathe dir so einfach gefallen, dass ich dich dafür am liebsten erwürgt hätte."

Sie lachte und ich musste auch lachen, wenn ich daran dachte. Als Kinder waren Zoe und ich wie Tag und Nacht gewesen.

„Aber das Leben ist leider nicht rational, Moira. Ich kann die Welt einfach nicht so sehen, wie du es tust", sagte Zoe dann und klang fast traurig.

„Wie meinst du das?"

Sie legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch. „Du siehst ganze Landschaften in den Schatten an der Wand und geheime Königreiche in den Gärten. Du hast Farben in deinem Kopf, mit denen du die Welt anmalst. Ich nicht, Mo. Ich konnte das nie."

Lange schwiegen wir und blätterten in meinen alten Heften herum. Und die ganz Zeit über musste ich an Mr Mortimer denken und an Karan. An das Leuchten in ihren Augen, wenn sie von ihren Träumen erzählten.

„Zoe, kann ich dich etwas fragen?", begann ich schließlich leise und sie blickte überrascht auf. „Was würdest du sagen, wenn ich wieder anfinge zu schreiben? Und wenn ich versuchen würde, mehr aus meinen Geschichten zu machen, als sie auf dem Dachboden Staub fangen zu lassen?"

Ihre Augen wurden größer und ich befürchtete beinahe, sie würden ihr aus dem Gesicht fallen.

„Mach es, Moira. Das würde ich sagen."



Mr MortimerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt