Kapitel 6

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Meine Flügel lagen ausgebreitet, schlaff neben mir auf dem Boden. Durch puren Willen gelang es mir nach einer Weile meine Augen zu öffnen. Ich schaute auf die klare Oberfläche des Sees. Langsam stellte ich mich auf meine Füße. Mein gesamter Körper bebte wegen der Anstrengung, die mich diese Geste kostete. Wackelig stand ich auf meinen Beinen. Meine Knie drohten unter mir nachzugeben. Ich musste zu Ben! Ich konnte ihn nicht mit Garry allein lassen, wer wusste, was er in seiner Wut tun wird. Ein leises Knurren drang aus meiner Kehle. Ich musste ihn beschützen. Meine Pupillen verengten sich zu dünnen Schlitzen. Langsam hob ich meine Schwingen vom Boden hoch. Plötzlich gaben meine Knie unter mir nach. Ein erschrockener Laut drang aus meinem Mund als ich wieder auf den Boden fiel. Die winzigen Steine bohrten sich zwischen meinen kleinen Schuppen in meine Haut. Mein Kinn knallte auf den Boden. Meine Wange begann wieder zu schmerzen doch das war mir egal. Mein Instinkt schrie mich an. Irgendetwas stimmte nicht. Mein Atem wurde wieder schneller. Ich musste jetzt zu ihm! Warum traf es immer mich? Mein gesamter Körper zitterte. Mein bedrohliches, tiefes, markerschütterndes Knurren brachte die Luft zum Vibrieren. Langsam richtete ich mich wieder auf. Zitternd schüttelte ich meinen Kopf. Schnaufend atmete ich ein. Mit gefletschten Zähnen breitete ich meine Schwingen aus. Konzentriert begann ich mit diesen zu schlagen. Die Luft wurde von meiner Flügelhaut nach unten gedrückt. Mit der Zeit wurde ich leichter. Meine Füße wurden so wie der Rest meines Körpers langsam in die Luft gehoben. Auf meiner schwarzen Haut waren die Narben noch besser zu sehen. Mit meiner Schwanzflosse lenkte ich mich zur gegenüberliegenden Seite der Lichtung. Langsam gewann ich an Höhe. Die Felswand kam mir immer näher. Konzentriert mobilisierte ich meine übriggebliebene Kraft. Der Wind strich über meine schuppige Haut. Ich hoffte, dass ich es über die Felswand schaffte. Meine Gesichtszüge verhärteten sich noch mehr. Knapp flog ich über die Kante der Wand. Der Stein streifte die weiche Haut auf meinem Bauch. Zischend schnappte ich nach Luft. Ich vergaß weiter mit meinen Flügeln zu Schlagen. Ich fiel auf den Waldboden und rollte ein paar Meter über diesen. Meine Schwingen erschlafften und wickelten sich um meinen Körper. Seufzend blieb ich auf dem Boden liegen. Meine Augenlider wurden wieder schwer. Mein Körper lag auf der Seite auf dem sandigen Waldboden. Plötzlich drang ein leises Geräusch in meine Ohren. Es klang wie ein Schrei von Ben, es war ein Schmerzensschrei von Ben! Sofort schoss mein Kopf mit aufgerichteten Ohren in die Höhe. Meine vor Schwäche runden Pupillen verengten sich wieder zu hauchdünnen Schlitzen. Vor mir erblickte ich auf einmal die Drachenreiter doch mein Instinkt hatte die Kontrolle vollkommen übernommen. Die Schwäche war nun vollkommen aus meinen Gliedern gewichen. Die Reiter starrten mich mit großen Augen an. Wütend fletschte ich meine Zähne. Hastig rollte ich mich auf meine Füße während ich meine Flügel unter meinem Körper hervorzog. Elegant hob ich diese in die Höhe und ging leicht in die Knie. Hicks trat einen Schritt nach vorne und zeigte mir seine leere Handfläche während er geduckt auf mich zu schlich und beruhigender Stimme: „Wir wollen dir nichts tun", langsam und leise sagte. Ich öffnete meinen Mund und aus diesem drang ein Brüllen, dass sowohl von meinem tiefsitzenden Schmerz als auch von meiner tiefen Wut zeugte. Es ließ einen erzittern. Langsam schloss ich meinen Mund wieder. Kraftvoll drückte ich mit meinen Schwingen die Luft nach unten und drückte mich währenddessen mit meinen Beinen nach oben. Senkrecht schoss ich in den Himmel. Mein Instinkt sagte mir genau, wohin ich fliegen musste. Die grünen Baumkronen zogen unter mir vorbei und verschwammen zu einem farbigen Fleck. Ich kämpfte die Höchstgeschwindigkeit aus meinem Körper heraus. Wahrscheinlich war ich vom Boden aus nur als schwarzer Streifen zu sehen. Der Wald wurde langsam zu einer Wiese und schließlich zu einem Dorf. Die Hausdächer zogen ebenfalls unter mir vorbei, ohne dass ich sie genauer ansah. Ich hörte ein Keuchen von ihm, so laut als würde er direkt neben mir stehen. Der Schmerz in meinem Inneren verformte sich zu einem Schrei der kurz darauf aus meinem Mund drang. Er ließ die Luft erben und dröhnte lautstark in meinen Ohren. Dort, wo der Schmerz gewesen war, war nun nur noch bodenlose, alles vernichtende Wut. Ich schoss weiterhin über den Himmel und folgte meinem Gefühl. Hoffentlich kam ich nicht zu spät an.

Mein Leben als HalbdrachinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt