„Oh man", nuschelte ich verschlafen, als ich das Handy an mein Ohr drückte, „ja?"
„Hi", flötete Noora mir freundlich wie sie war entgegen, „na?"
„Na", gab ich kurz zurück, setzte mich auf und rieb mir müde die Augen, „wie spät ist es?"
„Ich denke so 02.00 Uhr."
„Ah, doch so spät", witzelte ich ironisch und schmatzte, „was gibts denn?"
„Ich wollte nur fragen, wann du endlich kommst."
Ich ließ einen etwas genervten Luftstrom zwischen meinen Lippen entweichen und schüttelte den Kopf. Schon seit Wochen lag Noora mir damit in den Ohren. So gern ich sie hatte – aber diese Art der Fragerei war irgendwie nervig. Ich fand es schön, dass sie mich in ihrer Nähe haben wollte. Ich konnte sie auch sehr gut leiden und sie war eine tolle Freundin, aber ich hatte weder die finanziellen Mittel, noch irgendeine andere Option, die mir ein Leben in Helsinki ermöglichen würde.
„Du musst gar nicht so genervt ausatmen", Noora lachte, „ich frage dich das ja nicht jeden Tag."
„Aber jeden zweiten", konterte ich und musste grinsen, „du weißt, dass das keine Option ist."
„Warum denn nicht? Was hält dich in good old Bochum? Dein Kellnerjob? Die Couch deines Bruders? Deine Klamotten, die im Keller vor sich hin modern?"
„Ich habe meine Familie hier", stimmte ich Noora zu.
„Die Familie, auf deren Couch du pennst? Die Familie, die dich so unterstützt? Die Familie, die sich noch weniger bei dir meldet als sonst wer? Wake up, Emma", sagte sie jetzt ernster, „sowohl deine Mutter als auch deine beste Freundin Marlen melden sich nicht bei dir. Deinen Vater siehst du alle zwei Woche für ganzen 60 Minuten zum Essen. Du machst wer weiß wie viele Überstunden in dieser ranzigen Bar für billige 9€ in der Stunde. Das ist doch scheiße."
„Und Helsinki", ich war etwas schnippisch, „Helsinki gibt mir was genau?"
„Frische Luft, Meer, nette Menschen, schönen Sommer, zauberhafte Winter, eine hohe Lebensqualität, gute Schulen und eine vernünftige und faire Bezahlung."
„Weil ich noch zur Schule gehen muss."
„Nein. Aber zur Arbeit. Versuch es doch wenigstens mal. Wenn es blöd läuft, kannst du immer noch zurück auf das Sofa deines Bruders."
Ich fuhr mir durch die Haare und atmete nochmal hörbar Luft aus.
„Also nochmal: Was hält dich?"
„Mein Job", antwortete ich knapp.
„Gut. Wenn es nur das ist, dann pack deine Sachen, buch dir einen Flug und komm endlich her. Und nimm bloß den Koffer, den ich dir geliehen hab."
„Und dann wohne ich so lange bei dir, bis meine Ersparnis aufgebraucht sind und fliege dann als blinder Passagier wieder zurück nach Deutschland, weil ich ja keine Kohle mehr habe, um mir 'n Ticket zu kaufen?"
„Fast", Noora schnalzte triumphierend mit der Zunge, „bis auf die Tatsache, dass du dann wieder zurück nach Hause fliegst. Denn Geld verdienen kannst du auch hier."
„Hm?", gab ich lautartig von mir und runzelte fragend die Stirn.
„Ich würde nicht so sticheln, wenn ich nicht ein Ass im Ärmel hätte", Noora räusperte sich, „du weißt ja, wie ich bin. Ich kenne hier alles und jeden."
„Aber sicher", lachte ich.
„Und wie es der Zufall will, kenne ich auch den Chef vom Lady Moon ganz gut", sie hüstelte, „durch meinen Chef, deren Cousin, dessen Schwester, davon der Halbbruder. Du weißt, was ich meine."
„Ja und?"
„Jedenfalls sucht der neues Personal. Und ich habe ihm gesagt, dass ich jemanden kennen würde, der auf der Suche nach einer neuen Perspektive ist, aber noch einen Schubs in die richtige Richtung braucht."
„Das hast du so nicht gesagt?"
„Doch. Gerade heraus. Kennst mich doch", ich hörte Nooras Grinsen am Ende der Leitung, „also hau rein. Tasche packen, Flug buchen und herkommen. Kost und Logis bei mir, Job als Bardame im Lady Moon."
„Du spinnst, Noora."
„Und du musst endlich runter von dieser ollen Couch. Buch den Flug und sag mir, wann du da bist. Ich bin jetzt zu Hause und muss dringend ins Bett. Ich habe die erste Schicht im Carusel. Danke, dass ich dich auf meinem Heimweg zutexten durfte."
„Immer wieder gerne!"
Ich hörte, wie der Verkehr vor Nooras Tür plötzlich leiser und ihre Schritte dafür umso lauter wurden.
„Also", ihre Stimme war im Hausflur ganz hallig geworden, „sag Bescheid, ich frag dich morgen früh nochmal, wann du kommst. Schlaf gut!"
„Jaja", ich prustete Luft aus, „mit Sicherheit."
„Sehr gut!", Noora nahm mich beim Wort, „bis dann!"
„Noora?", ich fiel ihr ins Wort.
„Ja bitte?"
„Vergiss es", verkündete ich kurz.
„Komm schon. Du hättest einen Job."
„Den habe ich hier aber auch."
Noora seufzte.
„Seit Wochen rede ich wie eine Gestörte auf dich ein, dass du deinen kleinen süßen Arsch endlich hierhin bewegen sollst. Jetzt versuche ich, dich mit einem Job zu locken und das klappt auch nicht. Was soll passieren? Wovor hast du Angst? Was soll passieren?"
„Mir ist das alles zu unsicher", ich winkte ab und bemerkte erst danach, dass sie meine Geste gar nicht sehen konnte.
„Ein Job und ein Dach über dem Kopf sind dir also zu unsicher", ihre Stimme klang leicht hämisch, „na klar. Nur sicherer wäre was? Ein Bunker mit einem Vorrat an Dosenfraß?"
„Ja?", ich versuchte, die plötzlich so angespannte Stimmung irgendwie zu lockern, „aber nicht dieses Dosenfleisch. Das ist widerlich."
„Dann musst du wohl verhungern", Noora war nicht nach Witzen zu Mute, „und aus Mangel an Sonnenlicht unten in deinem Kellerloch sterben."
„Das würde ich in Helsinki auch."
„Alles klar", sie räusperte sich, „ich hab schon verstanden. Du willst nicht. Ich bin schlafen, bis morgen!"
„Schlaf gut!", sagte ich und hörte gleichzeitig das typische Tuten, wenn jemand am anderen Ende der Leitung aufgelegt hatte.
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Handprints
Fanfiction"[...] Und dabei sah ich aus wie der letzte Höhlenmensch. Hose und Shirt von gestern, das Shirt zusätzlich verknittert, die Haare nicht gemacht, Speiseeisflecken mit Schokoladenstückchen auf meiner Jacke. Zum Glück hatte ich keine frischen Klamotten...