Versteinert blieb Emma an Ort und Stelle stehen.
„Was?", hallte ihre brüchige Stimme durch das fast leere Lady Moon.
Raul stand auf und ging zu ihr, um sie wieder zurück an den Tisch zu holen.
Eigentlich hatte ich gehen wollen. Aber Raul hatte mich zurückgehalten. Rückblickend war das mit Sicherheit eine gute Entscheidung gewesen. Emma hätte es vermutlich nicht gewollt.
So wie sie auch gerade mit dem Anzugträger mit Sicherheit lieber alleine fertig geworden wäre. Aber ich würde ihr immer wieder zur Seite stehen – auch, wenn sie nicht wollte, dass ich eine schützende Hand über sie hielt.
„Setz dich mal", sagte er auf Englisch und strich von hinten über ihre Schultern.
„Was ist passiert?", wollte Emma wissen, nachdem sie sich neben Sami gesetzt und einen hastigen Schluck aus seiner Bierflasche genommen hatte.
„Das war ein Unfall", erklärte Riku ruhig, „beim Wasserski war noch ein anderes Boot auf dem Wasser. Das hat er irgendwie falsch eingeschätzt und hat sich schwer am Kopf verletzt. Von dem Kreuzband mal abgesehen."
Beim Wasserskifahren mit meinem Boot, ja.
Nervös knetete ich meine Hände.
Soweit ich das von mir selbst beurteilen konnte, war ich ein guter Auto- und auch Bootsfahrer. Allerdings hatten wir nicht damit gerechnet, dass ein weiteres Boot so dicht an uns vorbeifuhr, dass Mikko die Kontrolle verlor.
„Wir sind alle schon mit Samu gefahren, aber bis dato ist nie was passiert", ergänzte Riku.
„Bis zu Mikkos Unfall", sagte Emma und nahm – ohne zu fragen – noch einen Schluck Bier, „und jetzt? Wie geht es ihm?"
„Den Umständen entsprechend gut", Sami malte Gänsefüßchen in die Luft, „er lag im Koma. Aber er wird wieder."
„Das ist schrecklich", sie schüttelte fassungslos den Kopf, „wann ist das passiert?"
„Ende September. Im Koma lag er zum Glück nicht lange", begann Osmo, „Mikko ist wach und muss ganz viel Krankengymnastik machen. Wenn seine Sporteinheiten im Krankenhaus vorbei sind, vegetiert er vor sich hin. Wir versüßen ihm zwischendurch mal den Tag."
„Das ist sehr lieb von euch", über Emmas Gesicht huschte ein Grinsen, „und wie ging es ihm heute?"
„Es wird von Tag zu Tag besser. Er sagt, er langweilt sich, weil er nichts machen kann außer liegen, wenn er alleine ist. Liisa hat die Kinder und versucht natürlich, so oft wie möglich vorbeizukommen. Wir schieben ihn da auch nur blöd durch die Gegend und auf den Balkon."
Ich hatte eigentlich mit einer Standpauke ihrerseits gerechnet. Wie kindisch und unvorsichtig ich gewesen war. So, wie sie mich früher zwischendurch immer versucht hatte, zu maßregeln. Aber die kam nicht.
Emma schien wirklich besorgt und auch betroffen zu sein.
Sie verband – soweit ich wusste – keine tiefe Freundschaft mit Mikko, aber sie hatten sich immer gut verstanden und waren zumindest kollegial miteinander verbunden gewesen. Als sie noch den ganzen Tourkram für Niila organisiert hatte, hatte ich sie nicht selten stundenlang miteinander telefonieren sehen.
Natürlich verteufelte ich Mikko immer mal wieder, aber dass er sich bei einer Bootstour mit mir fast den Hals brach, war nicht in meinem Sinne.
Ein Bein hätte er sich brechen können. Aber ins Koma hatte ich ihn auf keinen Fall gewünscht.
Das hätte ich niemandem.
Zumindest war ich nicht bösartig genug, dass mir jetzt jemand spontan in den Sinn kam.
Ich beobachtete Emma, während Osmo von unseren unzähligen Krankenhausbesuchen bei Mikko erzählte.
„Deshalb also die langen Gesichter und die tiefen Tränensäcke", Emma zwang sich ein Lächeln ab, das sah ich sofort, „aber sonst kommt ihr klar?"
Bei jeder anderen Person hätte ich gelogen.
Und erzählt, wie toll wir alles managen konnten, obwohl Mikko nicht da war.
Aber nicht bei Emma.
Unabhängig davon, dass wir wirklich einen Arsch voll Arbeit hatten, sah ich die Chance, Emma endlich aus diesem siffigen Loch herauszuholen in greifbarer Nähe.
Natürlich steckte auch ein wenig Eigennutz dahinter – das konnte ich nicht leugnen. Mikko fehlte und die ganze Organisation blieb irgendwie an allen hängen. Keiner wusste wirklich, was der andere schon erledigt hatte und was nicht.
Und was bereits doppelt und dreifach erledigt worden war.
Ich stand in Emmas Schuld. Das, was ich ihr angetan hatte, war nicht wieder gutzumachen.
Und das wusste ich.
Und das, obwohl sie mich an dem Abend mit Rina und ihrem Zwillingsbruder wirklich wütend gemacht hatte. Es war nicht ihre Aufgabe, irgendwem von meinen Drogenerfahrungen zu erzählen und sich darüber ein Urteil zu bilden. Schließlich tat ich das auch nicht.
Ich musste versuchen, endlich einen Weg zu finden, wie wir hier gemeinsam leben konnten. Ich konnte es Emma nicht verübeln, wenn sie nicht wieder mit mir befreundet sein wollte. Aber ein „hallo" auf der Straße musste doch irgendwann wieder möglich sein.
Ein Miteinander, ohne dass wir uns immer wieder stritten – auch, wenn das mit Emma in der Vergangenheit viel Spaß gemacht hatte.
„Nein", ich wechselte in mein deutsch-englisches Kauderwelsch, „es ist eine Up and Down."
Ich bemerkte, wie mich die Blicke der Jungs plötzlich durchbohrten.
„Wir machen alle alles und everyone ist everywhere. There is no structure and nobody knows was die andere guy hat gemacht. Die Tour von Niila, von Leo, conversation mit die agencies. There is so much stuff to do."
„Oh", Emma presste die Lippen aufeinander, „das klingt nach Chaos."
Ich nickte.
„That's it. Chaos. Wir sind sehr weit weg von „we make it". We need help."
Das war es.
Ich hatte es gesagt.
Ich hatte sie gefragt, ob sie wieder bei uns arbeiten wollen würde.
Und wir brauchten Emma.
Ich brauchte sie.
Diesen Wink musste sie auf jeden Fall verstanden haben.
Um noch deutlicher hätte werden zu müssen, hätte ich ein Plakat malen müssen.
Mit einem Mal war es unglaublich still.
Als würden alle Anwesenden gebannt die Luft anhalten und Emmas Antwort abwarten.
Ich atmete tief ein und hoffte auf ein Lächeln.
Oder Nicken.
Oder im besten Fall beides.
„Ich wünsche euch viel Erfolg bei der Suche", sagte sie auf Englisch knapp, lächelte alle – außer mich – an und begann dann, den Tisch abzuräumen.
Die Blicke von Raul, Sami, Osmo und Riku lasteten schwer auf mir. Ich war über mein riesiges Ego gesprungen und hatte gefragt, ob Emma wieder zurück kommt.
Und das hatte ich verkackt.
Schon wieder.
„Lifegoal, bro, sie hasst dich immer noch", sagte meine innere Stimme.
„Fick dich", ich rollte die Augen stemmte die Ellenbogen auf die Oberschenkel, bevor ich mir mit den Händen durch das Gesicht fuhr.
Noch immer war es mucksmäuschenstill.
Bis Osmo aufstand und mir ein aufmunterndes Lächeln schenkte.
„Du hast es versucht", sagte er auf Finnisch und griff hinter sich, um seine Jacke anzuziehen, „mehr geht nicht."
Ich war wütend auf mich selbst.
Und niedergeschlagen, weil Emma mich noch immer verabscheute.
Und ich mir vielleicht eingestehen musste, dass da noch immer etwas war.
Dass ich es hasste, sie mit Paulus zu sehen.
Ich hatte es gehasst, als er ihre Hand genommen hatte.
Ich hasste es, dass sie nicht mehr in meiner Nähe war.
Ich hasste Ed Sheeran für Happier.
Vielleicht war sie das: Glücklicher.
Ohne mich.
Aber ich war das nicht ohne Emma.
„Verdammte Scheiße", jetzt stand auch ich auf, „ich will sie wieder in meinem Leben haben."
„Ich weiß", Osmo schlug mir freundschaftlich auf die Schulter, „ich weiß."
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Handprints
Fanfiction"[...] Und dabei sah ich aus wie der letzte Höhlenmensch. Hose und Shirt von gestern, das Shirt zusätzlich verknittert, die Haare nicht gemacht, Speiseeisflecken mit Schokoladenstückchen auf meiner Jacke. Zum Glück hatte ich keine frischen Klamotten...