Ich wischte mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, als ich die klimatisierte VIP-Lounge in der VELTINS-Arena in Gelsenkirchen betrat. Sofort streckte man mir ein rundes Tablett mit Sekt- und Orangensaftgläsern entgegen, die ich dankend ablehnte. Mir war nach Wasser. Mit oder ohne Kohlensäure. Hauptsache kein Blubberwasser mit Alkohol, das mir bei dieser Hitze vermutlich den Rest gegeben hätte. Außerdem war ich – gerade was Alkohol und Drogen anging – kein unbeschriebenes Blatt. Letzteres hatte mir vor nicht allzu langer Zeit den Boden unter den Füßen weggezogen. Drogen, im Zusammenhang mit Alkohol, Hannu und Frauen, die ich einen Abend lang kannte.
Um genau zu sein.
Liisa, Mikkos Frau, nahm ein Glas mit dem gekühlten Blubberzeug entgegen, nickte der braunhaarigen Kellnerin freundlich zu und exte den Sekt mit einem Schluck herunter.
„Ich bin so durstig", hechelte sie auf Finnisch, „es ist unglaublich, wie warm es hier ist."
Mikko lachte, angelte sich ebenfalls einen Sekt von dem Tablett der Kellnerin und zog die Cap von seinem Kopf, um sich mit dem Schirm Luft zuzufächeln.
Vor ungefähr vier Monaten waren wir zum letzten Mal hier gewesen und seitdem hatte sich hier nichts verändert. Der Boden hatte noch immer die gleiche Farbe, die Kellner und Kellnerinnen waren dieselben, die Aussicht war die Gleiche. Mit dem Unterschied, dass wir die VELTINS-Arena nicht zum Überlaufen gebracht hatten.
Wir nicht.
Ed Sheeran schon.
Bei dem Blick durch die gläserne Front der VIP-Lounge konnte ich nur noch wenige Sitzplätze in den oberen Rängen ausmachen, die unbesetzt waren. Aber die Fläche, die eigentlich zum Fußballspielen gedacht war, quoll aus allen Nähten. Die Leute standen dicht an dicht und mussten da unten sicher zu Tode schwitzen. Da konnten wir hier oben in den klimatisierten Räumen nur müde lächeln.
Nicht ganz 55.000 passten in die Arena „auf Schalke", wie der Deutsche sagte.
„Was schätzt du?", Mikko stieß gegen meine Schulter.
„Hm?"
„Wie viele Plätze sind noch frei?", formulierte er.
„5.000", antwortete ich, nachdem ich erneut – dieses Mal prüfend – auf die Ober- und Unterränge gesehen hatte und dann zu einem meiner besten Freunde, „maximal."
„Würde ich auch tippen. Gut ausverkauft."
„Wer ist die Vorband?"
„Jamie Lawson und Anne-Marie."
„Cool", nickte ich, „und der Sheeran kommt wann?"
Mikko schüttelte das linke Handgelenk aus und sah auf seine Armbanduhr.
„Nach 8, vor 9. Würde ich schätzen."
„Alles klar", meinte ich und zupfte an meinem Shirt, um mir eine bisschen Luft zuzufächeln, „dann hol ich mir vorher noch 'n Wasser."Als Ed Sheeran um 20.45 Uhr endlich auf die Bühne kam, waren die Leute in der Lounge schon sichtlich genervt. Es ging ihnen nicht schnell genug und die beiden Vorbands waren – für die Anwesenden – viel zu unbekannt, als dass sie ihrer Meinung nach so viel Zeit „verdient" hätten. Mikko bekam von diesem ganzen Gepöbel nur wenig mit; sein Deutsch war dafür noch nicht „gut" genug. Ich hingegen hätte das ein oder andere Mal sicher meinen Senf dazu geben können. Aber ich war nicht gewillt, mich auf eine Diskussion über Kunst und Musik einzulassen. Erstrecht nicht mit Leuten, die keine Ahnung davon hatten und nur hier waren, weil irgendjemand Vitamin B-Spritzen verteilt hatte.
Ich war nicht erst seit „Perfect" ein absoluter Fan von dem rothaarigen Künstler gewesen. Ich mochte seine Musik schon immer und war ein Bewunderer seines Talents. Zudem war er als Künstler genau so sympathisch und authentisch wie auch privat. Er musste sich nicht verstellen, um zu gefallen. Er war einfach so, wie er war und die Leute liebten ihn für das, was er tat.
Ed gab einen Hit nach dem anderen zum Besten, verausgabte sich auf der Bühne vollkommen und brachte damit die Leute zum Tanzen und Mitgrölen. Niemand auf den Rängen saß mehr still auf seinem Platz. Alle klatschten und jubelten. Wie gerne wäre ich ein Teil der Crowd gewesen. Denn in der VIP-Lounge hatte so ziemlich jeder einen ganz großen Stock im Arsch, der es den meisten Menschen hier unmöglich machte, auch nur eine Miene zu verziehen. Einzig wir drei und ein kleiner, etwas stabiler deutscher Comedian wippten und konnten sogar Texte mitsummen oder -singen.
Fast zeitgleich zückten Liisa und Mikko ihre Smartphones und öffneten die App eines sozialen Netzwerks, als Ed ohne eine weitere Vorankündigung die ersten Töne von „Happier" anstimmte.
„Ich liebe diesen Song!", schwärmte Liisa.
„Ich weiß", Mikko nickte grinsend und machte eine Liveaufnahme für seine Follower.
Zuerst sang ich noch leise mit, bis mir jedes einzelne Wort des Songs im Hals stecken zu bleiben drohte.
Saw you walk inside a bar, he had something to make you laugh. I saw that both your smiles were twice as wide as ours. You look happier, you do.
Vor ungefähr vier Monaten waren wir zuletzt hier gewesen.
Und vor ungefähr vier Monaten hatte ich nicht den Arsch in der Hose gehabt, aus dem verdammten Mietwagen zu steigen und einer der wichtigsten Personen in meinem Leben zu sagen, wie leid mir alles getan hatte und wie sehr ich mich für mein Verhalten schämte.
Die Therapie hatte zu 100% angeschlagen und ich war mit mir selbst im Reinen. Ich wusste, wie ich mir im schlimmsten Fall helfen konnte und zu wem ich gehen konnte, wenn ich mir nicht mehr sicher war, ob ich es alleine schaffen würde.
Dieser Fall war nicht eingetreten und ich legte keinen Wert darauf, dass es in meinem Leben wieder jemals dazu kommen sollte.
Wir hatten eine tolle Tour gespielt und ich hatte danach wieder mehr Zeit für meine Freunde und Familie in Helsinki gefunden. Ich ging wieder regelmäßig zum Sport, verbrachte aber auch viel Zeit mit den Jungs im Studio oder fuhr für einige Tage raus ins Mökki um zu angeln.
Und trotzdem ließen mich die Erinnerungen an die regnerische Nacht nach dem Konzert nicht in Ruhe.
Emma hatte ihre Umzugsmöbel in einen Caddy gehievt, ein Karton war kaputt gegangen. In meinem Kopf hastete sie tausende Male zurück in die Wohnung zurück zum Wagen, wieder zurück in die Wohnung und letztlich wieder zum Wagen.
Und ich hatte in diesem gemieteten Auto auf der anderen Straßenseite gesessen und wie ein Schloßhund geheult.
Anstatt auszusteigen, Emma zu helfen, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu versprechen, dass jetzt alles gut werden würde.
Dass ich da war und nicht vorhatte, wieder zu verschwinden.
Dass ich bei ihr sein wollte.
Aber das hatte ich – mal wieder – vergeigt.
Auf ganzer Linie.
Und damit redete ich nicht vom Koks.
Je länger Ed den Song spielte, desto schlechter ging es mir.
Ich ertrug diese wahren, ehrlichen Worte nicht.
Egal, wo Emma jetzt war und mit wem sie ihre Zeit verbrachte war.
Sie war glücklicher als mit mir.
100%ig.
You look happier, you do.
Und ich war jetzt – auch nach diesen vier Monaten – immer noch sicher, dass ich mit ihr in meinem Leben glücklicher gewesen wäre.
But I know I was happier with you.
Mikko filmte fleißig, während sich mir neben ihm mein Magen völlig zusammenzog.
„Ich geh", flüsterte ich zu ihm herunter gebeugt.
„Was?", Mikko sah mich fragend an.
„Ich ertrag das gerade nicht."
„Das Lied?"
Ich nickte stumm.
„Emma?"
Wieder nickte ich.
Mittlerweile war auch Liisa auf meine gedrückte Stimmung aufmerksam geworden und stellte sich hinter ihren Ehemann.
„Was ist los?"
„Ich hau ab", sagte ich und wollte zum Gehen ansetzen, aber Liisa legte mir die Hand auf den Arm legte.
„Ich mag dich sehr", fing sie an und holte dann tief Luft, „und wir wissen alle, dass du dir das mit Emma selbst nicht verzeihst. Aber nur einer ist schuld an allem. Und das bist du selbst."
„Danke", ich setzte ein künstliches Lächeln auf und wich einen Schritt zur Seite, „danke, dass du mir diese neue Erkenntnis ermöglicht hast. Das wäre mir ohne dich nie selbst in den Sinn gekommen. Dankeschön!"
Und ohne mich weiter auf eine Diskussion einzulassen, zog ich genervt ab.
DU LIEST GERADE
Handprints
Fanfiction"[...] Und dabei sah ich aus wie der letzte Höhlenmensch. Hose und Shirt von gestern, das Shirt zusätzlich verknittert, die Haare nicht gemacht, Speiseeisflecken mit Schokoladenstückchen auf meiner Jacke. Zum Glück hatte ich keine frischen Klamotten...