Langsam aber sicher entwickelte ich einen gesunden Egoismus

154 4 0
                                    

Ich streckte mich müde, als der blonde Mann neben mir seinen Wecker ausschaltete und mir einen Kuss auf die Schläfe drückte.
Um genau zu sein, hatte er die Nacht bei Noora verbracht.
Neben mir.
Auf einer Schlafcouch, die in Nooras improvisiertem Gästezimmer stand.
In dem ich wohnte.
Oder viel mehr hauste.
Je nachdem, wie man es auslegen wollte.
Neben einem Kleiderschrank und einem Schreibtisch, den ich mit meinen Papieren überhäuft hatte.
Ich war mit zwei Koffern angereist, nachdem Noora noch einige Male Pro- und Kontralisten mit mir schreiben musste. Sie hatte die Listen gehasst, war aber letztlich als Sieger – stellvertretend für die Stadt Helsinki – hervorgegangen.
Gut bezahlter Job, Wohnung, Lebensqualität und eine gute Freundin, die mich gerne um sich herum hatte waren eindeutig auf der Habenseite. Auf der Kontraseite hingegen standen meine Mutter, Leni, kein Job und keine Wohnung – was die Entscheidung um einiges erleichterte.
Anfang Juni hatte ich dann meinen ersten Arbeitstag im Café Carusel. Voller Aufregung war ich gemeinsam mit Noora zu unserer ersten Schicht angetreten und hatte prompt die erste Bestellung falsch aufgenommen. Darauf folgten diverse Gläser, die ich zerdepperte und Verwechselungen von Cola light und Cola, wenn sie am gleichen Tisch bestellt wurden. Mein Chef – sowie Noora – nahmen alles mit Humor, denn schließlich hatte jeder von ihnen mal klein angefangen. Und auch die Besucher nahmen mir nichts dergleichen übel.
Abends paukte ich gemeinsam mit Noora Vokabeln und hilfreiche Sätze, die mir im Umgang mit den Gästen weiterhelfen sollten. Zwar konnten die meisten Finnen auch Englisch, aber ich fand es irgendwie schöner, sie auf Finnisch fragen zu können, was sie gerne essen oder trinken wollten. Wenn wir an den Wochenenden frei hatten, fuhren wir gemeinsam in die umliegenden Städte wie Espoo, Tampere oder Turku. Dort ließen wir die Seele baumeln, erkundeten die Stadt und genossen die sommerlichen Temperaturen bei einem Milchshake.
Ich fühlte mich angekommen und wohl aufgehoben.
Das erste Mal seit einer langen Zeit wieder.
Wenn auch meine Familie in Deutschland mit dieser Entscheidung nur bedingt gut leben konnte. Aber ich war nur mir selbst etwas schuldig. Ich musste mich vor niemandem für das, was ich tat, rechtfertigen. Ich ganz allein musste nur mit den möglichen Konsequenzen für mein Verhalten leben.
Nur ich.
Niemand sonst.
Langsam aber sicher entwickelte ich einen gesunden Egoismus.
Nach meinen ersten Wochen im Carusel und einigen typisch-finnischen Bedienungssätzen schleuste Noora mich Ende Juni noch zusätzlich im Lady Moon als Bardame ein. Meine Erinnerungen an diese Bar waren nur noch in Fetzen vorhanden, weil ich bei meinem letzten Besuch etwas zu viel Alkohol getrunken hatte und mit einem Typen namens Alex nach Hause gegangen war.
Bereits bei meiner ersten Nachtschicht in dem Laden machte ich Bekanntschaft mit zwei deutsch-amerikanischen Anwälten aus New York, die von da an mindestens zwei Mal im Monat ihren Whiskey bei mir tranken und über die neueste Strategie für den nächsten Fall zu beratschlagen.
Zusammenfassend war ich mit mir und meinem Leben zufrieden, auch, wenn ich keine eigene Wohnung hatte und bei Noora leben musste. Wir verstanden uns hervorragend, aber auf Dauer wollte ich mir natürlich etwas Eigenes suchen, um Noora nicht um ihr kleines Reich zu bringen.
Und mein ganz persönliches I-Tüpfelchen in Helsinki war Paulus.
Der blondhaarige Mann, der seit einigen Wochen neben mir einschlief.
Der Paulus, der bei Brøndby Dänemark Fußball spielte und der Bruder von Niila war.
Paulus und ich kannten uns erst nur flüchtig durch seinen Bruder und lernten uns erst so richtig kennen, als er seine Familie in Helsinki besuchte und mit seiner Schwester und einigen Freunden im Lady Moon abstieg.
Und immer und immer wieder kam.
Mit Niila, mit seinen Kumpels, mit seiner Schwester.
Und irgendwann alleine.
Wir quatschten, witzelten herum, trafen uns öfter – auch in meiner Freizeit. Er faszinierte mich, eben weil er nicht der dumme Fußballtrottel war, von dem man per se erst einmal ausging. Paulus war vielseitig interessiert und alles andere als ein Proll, der als Fußballer Kohle scheffelte. Hinzu kam, dass er unglaublich groß und gutaussehend war.
„Heiratsmaterial", wie Daniel gesagt hatte.
Ich hatte mich ein wenig verguckt, ließ mir das nicht anmerken. Noora hatte das allerdings schon längst gepeilt und kaufte mir die Unergründlichkeit in Person natürlich nicht ab.
Eines Abends, nach einem Kinobesuch und einem gemeinsamen Essen, hatte Paulus mich zu meiner Bahnhaltestelle gebracht und zum Abschied umarmt. Aber irgendwie ließ keiner den anderen los, so dass meine Arme auf seinen Unterarmen lagen und wir uns einfach nur ansahen.
Die Bahn, die ich eigentlich nehmen wollte und musste, weil sie die letzte an diesem Abend war, fuhr an uns vorbei.
„Too late, mh?", hatte Paulus gesagt, mein Gesicht in seine Hände genommen und geküsst.
Ich hatte die Luft angehalten und hinterher vermutlich etwas zu breit gegrinst, als Paulus den Abstand zwischen uns ein klitzekleines Bisschen vergrößert hatte.
Nach diesem Abend versuchten wir unsere Termine miteinander irgendwie zu koordinieren. Er war mit dem Verein fast ständig irgendwo unterwegs und ich konnte meine Schichten leider auch nicht immer so tauschen wie ich wollte – aber wir machten das Beste aus der Situation und nutzten die wenigen gemeinsamen Tage oder manchmal auch nur Stunden effektiv. Mal im Café, mal am Flughafen, mal bei seiner Schwester Adeliina, bei der Paulus oft unterkam, wenn er für eine kurze Zeit in Helsinki war.
Oder eben bei Noora auf dem ausklappbaren Schlafsofa.
Und heute war wieder einer dieser Tag, an dem ich mich von Paulus verabschieden musste, weil er die nächsten Wochen mit der Mannschaft im Trainingslager verbringen würde.
„Coffee?", nuschelte ich in das Kissen und drückte mich an ihn.
„Later", flüsterte Paulus nah an meinem Ohr und strich mir die Haare aus dem Gesicht, „first I have something to do."
Hm?", ich hob den Kopf und blinzelte Paulus verschlafen an.
Sein Bart – ebenso wie seine Haare – standen in alle Richtungen ab.
„Having a shave?"
„No", er schüttelte den Kopf, kam näher und hauchte mir einen vorsichtigen Kuss auf.
Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf und auf meinem Gesicht breitete sich wieder das gleiche Grinsen aus, was Paulus mit Sicherheit schon nach unserem ersten Kuss gesehen hatte.

HandprintsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt