Während Daniel tatsächlich nur Chicken Wings in sich hineinstopfte, sprachen wir viel über mein neues Leben in Helsinki. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich so gut lief, wie ich es ihm erzählte. Mit zwei Jobs und Nooras Ausziehsofa. Über kurz oder lang wollte ich mir etwas Eigenes suchen – das stand fest und war für Noora und mich total klar. Immer wieder hatte ich mich bei Arbeitskollegen umgehört. Die richtige Wohnung war aber bisher nicht dabei gewesen und so ließ Noora mich immer noch bei sich wohnen.
Im Gegenzug bekam ich von Daniel ein Update über die Heimat. Papa und Mama ging es gut, Julian ebenso – von Marlen gab es kein Lebenszeichen. Sie hatte nach unserem letzten Streit alle Verbindungen zu mir und meiner Familie gekappt. Als Daniel plötzlich das Thema wechselte und nach Cocktails und Weinsorten im Löyly fragte, war ich mit diesem Schlenker kurzzeitig überfordert, weil ich darauf nicht vorbereitet war. Und obwohl wir uns so lange nicht gesehen hatten, funktionierten unsere – beziehungsweise meine - Sensoren immer noch genauso gut wie zuvor. Und das war ein sehr beruhigendes wie auch angenehmes Gefühl. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, beschlossen wir gemeinsam, am Abend zu feiern. Die Reunion, das gute Wetter, uns, egal.
Du holst mich dann ab, ja?", fragte Daniel, als wir nach der Schlenderei am Klaus K ankamen, „und dann gehen wir los?"
Ich nickte.
„Du willst dich betrinken, oder?"
„Och", Daniel machte ein Duckface und runzelte die Stirn, „wenn die da guten Alkohol haben, dann würde ich nicht „nein" sagen."
„Hab ich mir fast gedacht", schmunzelte ich ihn an.
„Ich weiß."
„Und ich weiß, dass du es weißt", fügte ich noch hinzu und bekam somit die Bestätigung meiner Vermutung.
„Bist du um 7 hier?", durchbrach Daniel die Stille zwischen uns.
„Jawohl, Sir!"
„Weggetreten!", kommandierte er, bevor er mich nochmal umarmte.„Wen willst du denn abschleppen?", staunte mein Bruder am Abend, als er aus der Drehtür des Hotels auf den Gehweg trat, „das mit der Zigarette hat 'n bisschen was Verwegenes."
„Jaja", ich winkte ab und ließ den Zigarettenstummel auf den Boden fallen, bevor ich ihn austrat, „danke für die Blumen. Können wir los?"
„Du hast die Frage nicht beantwortet."
„Niemanden, versprochen."
Zugegeben: Ich hatte mich schon etwas rausgeputzt. Vielleicht trug ich ein wenig zu viel Rouge, ein wenig zu viel Mascara und ein wenig zu viel Eyeliner. Dafür hatte ich meine Lippen ganz klassisch rot geschminkt. Aber na und? Es war abends und ich konnte rumlaufen, wie ich wollte – außerdem sah es gut und nicht billig aus.
Ich lief allgemein nicht ungepflegt rum, aber schon länger hatte ich mich nicht mehr so sehr nur für mich herausgeputzt. Nach dem Duschen verbrachte ich mehr Zeit als sonst im Bad, hörte Musik, legte dabei eine unglaubliche Performance hin, schminkte mich in aller Ruhe und glättete meine krisseligen roten Haare. Ich hüpfte in Unterwäsche durch die Wohnung, probierte verschiedene Outfits an und entschied mich dann für einen schwarzen Jumpsuit mit tiefem Ausschnitt.
Ich war nicht in meinem alltäglichen Casuallook unterwegs – und das sah man.
Das war auch gut so.
„Ich würd dich mitnehmen", grinste Daniel und hielt mir den Arm hin, „willst du mit den Schuhen laufen oder fahren wir?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Laufen. Das bekomm ich dann wohl gerade noch so hin."
„Ich trag dich nicht", stellte mein Zwillingsbruder klar, „und deine Schuhe auch nicht."
„Ich hätte nichts Gegenteiliges vermutet", ich streckte ihm die Zunge raus, bevor ich ihn – erneut an diesem Tag – durch die Stadt scheuchte.Am Löyly war nicht allzuviel los. Die meisten Touristen waren bereits Ende Juli wieder nach Hausegeflogen, so dass größtenteils nur finnische Sprachfetzen an mein Ohr drangen.Fasziniert von der Architektur und dem vielen Holz bestellte Daniel an der Barunten eine Flasche Weißwein mit zwei Gläsern und einen Veggieburger mit Pommes,bevor wir es uns oben auf den großen Sitzsäcken gemütlich machten. Noch immerwar die Luft angenehm, aber sobald die Sonne gänzlich am Horizont verschwindenwürde, hätten wir mit kaltem Wind zu rechnen. Vorsorglich nahm ich mir eine derMikrofaserdecken von den Outdoorsofas, um später nicht in die Bredouille zukommen und keine mehr zu bekommen.
„Der Himmel sieht aus wie Zuckerwatte", Daniel zeigte auf den blau-rosa Farbverlaufund schenkte uns ein, „es ist wirklich total schön hier. Ich kann verstehen,warum du gerne hier bist."
„Komm doch im Winter nochmal", griff ich das Thema vom Vormittag erneut auf undklaute eine Pommes, „und dann reden wir nochmal über rosa Wolken und Suizid."
„Du kommst einfach nach Hause, wenn du das Gefühl hast, du müsstest dichumbringen?"
„Ah", ich nickte.
„Gute Idee, oder?"
„Ja", langsam nahm ich das Glas entgegen, „und Problem gelöst."
„Auf das gelöste Problem und den Suizid im Winter!", Daniel erhob sein Glas,„Kippis!"
„Kippis", prostete ich ihm zu und nahm einen kleinen Schluck.
„Der Wein ist auch gut", Daniel stellte das Glas schmatzend auf denDielenboden, „die Pommes auch. Da kann der Burger ja nur gut werden."
„Finnland hat auch einen hohen Standard bei der Lebensqualität."
„Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast", seine Augenbrauenwippten, während er den Burger in die Hände nahm, „welches Land ist auf Platz1?"
„Es war so klar", ich nippte an dem Weißwein, „dass du jetzt so blödeInsiderinfos haben willst."
„Sicher", Daniel nickte.
„Du weißt ganz genau, dass ich dir das nicht liefern kann."
„Sicher", sagte er wieder und biss triumphierend in sein Abendessen.
„Iss und trink deinen Wein!", grinste ich und deutete mit der Nase darauf, „Dannkannst du nicht so blöde Fragen stellen."
„Es gibt keine blöden Fragen, nur blöde Antworten", seine Mundwinkel zogen sichgefühlt über das ganze Gesicht. Er hatte verblüffende Ähnlichkeit mit demGrinch aus „Kevin allein in New York".
„Du bist widerlich", ich machte mich über die Pommes her, bevor ich denrestlichen Inhalt des Glases zügig herunterkippte, „schütt mal lieber nach undred nicht so viel."
Nach der Flasche Weißwein stiegen wir auf Cocktails und Shots um und begannenmit zunehmendem Alkoholpegel über das Leben zu sinnieren und zu philosophieren.Zwischendurch – und das war die meiste Zeit der Fall – drifteten wir ab undquatschten nur noch dummes Zeug, das glücklicherweise niemand außer unsverstehen konnte. Wir bestellten erneut eine Portion Pommes als Snack undwechselten noch vor Mitternacht nach unten an die Bar, weil es hier windstillerund ein bisschen wärmer als oben auf der Terrasse war. Und hier war aucheindeutig mehr los als noch vor zwei Stunden.
„Ich muss das nochmal fragen: Wenn du dir hier wen aussuchen könnten, den duabschleppen würdest", Daniel räusperte sich, „wie fändest du dann denbraunhaarigen Kerl da hinten?"
„Sind wir jetzt an dem Punkt angelangt?", witzelte ich, „hast du so vielgetrunken, dass du auf Kuppeleien aus bist?"
„Wir gucken nur. Gegessen wir zu Hause", er korrigierte seine Haltung, „also?Der braunhaarige Kerl?"
Nachdenklich verzog ich den Mund.
„Der ist sehr groß und sehr schlaksig."
„Ja oder nein?"
„Nein", mein Blick flog über die einzelnen Tische, „und der? Schwarzer Dutt,Locken."
„Der mit der Lederjacke?"
„Genau."
„Auf keinen Fall!", protestierte Daniel laut, „der sieht aus, als würde er zueiner Motorradgang gehören."
„Vielleicht ist er ein Angel?"
„Aber kein No Angel", Daniel kniff die Augen zusammen und sah sich weiter ander Bar um, „was ist mit dem Blonden da?"
„Welcher?"
„Blond, weißes Hemd. Da hängt das Jacket über dem Stuhl."
„Find ich gut."
„Der hat Rücken."
„Ich weiß. Sehe ich. Fragt sich nur, wie das Gesicht aussieht."
„Die Chancen stehen 50/50, oder? Entweder Schönling oder 'n Hässlicher."
„In jedem Lächeln wohnt ein Zauber inne", formulierte ich geschwollen undmachte das Lonkero Glas in einem Zug leer.
„Du weißt, dass das Zitat so nicht geht?"
„Sicher", ich hüstelte gekünstelt, „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne."
„Danke", Daniel wischte sich mit der Hand den nicht vorhandenen Schweiß von derStirn, „ich dachte schon."
„Was dachtest du?"
„Du vergisst deine Muttersprache und sämtliche Zitate für ein finnisches Kippis."
„Nicht ganz", meinte ich ironisch, „ein bisschen kann ich noch."
„Gibt es ein finnisches Wort für sorry?"
„Ja, anteeksi. Wieso?"
Daniel zeigte auf mein leeres Glas und trank seinen Lonkero auch sofort aus.
„Na ja. Wir sitzen auf dem Trockenen und ich würde gerne das Gesicht von demBlonden an der Bar sehen. Irgendwas muss ich ja sagen, um mich dadurchzuquetschen."
„The stage is yours", lallte ich leicht und machte eine einladende BewegungRichtung Bar, „aber du musst so dicht an ihn ran, dass er sich umdreht. Sonstkann ich nicht gucken."
„Das ist meine leichteste Übung, Schwester!", Daniel zwinkerte und ging mit denbeiden Gläsern zur Bar.
Während ich wartete, schaute ich auf mein Smartphone und beantworteteNachrichten von Paulus und Noora. Beiden ging es soweit gut; nur Paulus hattemit trainingsbedingtem Muskelkater zu kämpfen.
Wieder sah ich auf. Daniel war schon ein Stückchen vorgerutscht und hielt jetztdie beiden Gläser in die Lücke zwischen dem blonden Mann und einem anderen Mann,der offensichtlich nicht zu ihm gehörte.
Daniel bewegte den Mund und riss plötzlich die Augen weit auf.
Er stellte die Gläser auf dem Tresen ab und blieb wie versteinert stehen, bisder Blonde aufstand und Daniel freundschaftlich in die Arme schloss.
„Das ist 'n Witz, oder?", nuschelte ich ungläubig vor mich hin, als icherkannte, wem der Rücken gehörte, den mein Zwillingsbruder und ich gerade nochin den Himmel gelobt hatten: Samu.
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Handprints
Fanfiction"[...] Und dabei sah ich aus wie der letzte Höhlenmensch. Hose und Shirt von gestern, das Shirt zusätzlich verknittert, die Haare nicht gemacht, Speiseeisflecken mit Schokoladenstückchen auf meiner Jacke. Zum Glück hatte ich keine frischen Klamotten...