„Du hast gesoffen wie ein Loch."

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Fuck und you waren die ersten Worte, die ich hörte – ebenso wie ein lautes Krachen – als ich völlig gerädert aufwachte. Mein Schädel brummte wahnsinnig und mein Körper fühlte sich an, als würde er nicht zu mir gehören. Müde rieb ich mir die Augen, während die gleichen Worte wie vor einigen Sekunden erneut an mein Ohr drangen. Als ich mich aufsetzte und mich im Zimmer umsah, fiel mein Blick auf den geknüllten schwarzen Jumpsuit am Fußende. Ich angelte ihn umständlich zu mir ans Kopfteil und öffnete grobmotorisch den Reißverschluss, um nach dem Aufstehen direkt wieder hineinschlüpfen zu können. Umständlich rollte ich meinen Körper auf die Bettkante, streckte mich und kniff schmerzverzerrt die Augen zusammen. So viel wie gestern Abend hatte ich schon lange nicht mehr getrunken. Mein Körper signalisierte mir, dass es eindeutig viel zu viel gewesen war. Ich raffte mich auf, schlüpfte unbeholfen in den Jumpsuit und verlor beim zweiten Bein das Gleichgewicht, so dass ich gegen die schwarze Kommode neben dem Bett kippte und mir den Kopf stieß.
„Au", nölte ich leidend und fiel wie ein Stein wieder zurück auf das Bett.
„Geschieht dir recht", Daniel war aus dem Badezimmer gekommen und rubbelte sich mit einem Handtuch über seine roten Haare.
„Stirb", nuschelte ich und hielt eine Hand an meine Stirn gepresst.
„Warum denn so freundlich?", Daniel kam zu mir und hopste auf das Bett neben meinem, „Hast du etwa Kopfschmerzen?"
„Lass mich", ich winkte mit der freien Hand ab, „hilf mir lieber."
„Wobei?"
Ich versuchte, meine Beine in die Luft zu strecken und hatte damit nur mäßigen Erfolg, was Daniel mit einem Lachen quittierte.
„Du kannst auch noch ein paar Stunden ausnüchtern. Ich bin dein Bruder und verurteile deine gestrige Eskalation nicht. Und über 'n Walk of shame musst du dir auch keine Gedanken machen. Ich lasse dich sogar duschen."
„Wie unglaublich freundlich von dir", schoss ich sarkastisch zurück und drehte mich auf die andere Seite in Daniels Richtung, „wie schlimm war ich?"
Mein Zwilling zuckte mit den Schultern.
„Geht. Du warst schonmal schlimmer. Es geht aber auch deutlich gemäßigter."
„Ich fühl mich, als hätte ich eine Flasche Salmiakki getrunken."
„Zwei", er nickte anerkennend, „du hast gesoffen wie ein Loch."
„Du doch auch?"
„Ich hab irgendwann gemerkt, dass ich aufhören muss, weil sonst niemand von uns zu Hause oder hier im Hotel ankommt."
Ich sah hoch zur grauen Tapete mit den weißen Ornamenten, dem Flatscreen an der Wand und der aus dunklem Holz gefertigten Garderobe. Die Einrichtung war sehr schön und gemütlich und die Betten weder zu hart noch zu weich. Auf jeden Fall anders als Nooras Schlafcouch, die ich hin und wieder verfluchte.
„Du hast also die Notbremse gezogen", sagte ich, als ich meinen visuellen Rundgang durch den Schlafbereich hinter mich gebracht hatte.
„Sozusagen, ja", Daniel zog die Nase hoch, „du hast allerdings trotzdem ganz schön danebengegriffen."
„Wann?"
„Als wir Samu getroffen haben", meinte Daniel trocken und griff zu der Trinkflasche neben seinem Kopfkissen.
„Oh Gott", ich hielt mir die Hände vor die Augen, „der Rücken."
„Genau... Der Rücken..."
„Ich weiß auch nicht, warum du da hingegangen bist", begann ich zu pöbeln, „mit dem will doch wirklich niemand reden."
„Ich bin zur Bar gegangen, um Getränke zu holen. Du hast mich mehr oder weniger geschickt."
„Ach stimmt. Aber du bist da nicht mehr weggekommen, oder? Weil er dich vollgelabert hat. Ich musste dich holen", rekonstruierte ich, „und dann?"
Ich überlegte.
Einen Filmriss hatte ich nicht, aber ich musste wirklich scharf nachdenken, was dann passiert war.
Daniel lachte.
„Also den Magen mussten wir dir nicht auspumpen lassen. So riesig kann deine Erinnerungslücke nicht sein."
„Wir? Warum?", ich riss die Augen auf, „du und wer? Der Haber?"
„Gut kombiniert", mein Zwillingsbruder klatschte ironisch in die Hände, „weiter so! Vielleicht muss ich dir gar nichts erklären."
Krampfhaft versuchte ich, mein Gedächtnis aufzufrischen und mich zu erinnern, was genau gestern Abend passiert war. Je länger ich darüber nachdachte und zu keinem wirklichen Ergebnis kam, desto weniger interessierte es mich tatsächlich. Was auch immer ich gemacht hatte: Nichts war schlimmer als jemanden nach dem Trinken anzukotzen. Und da das offensichtlich nicht passiert war, weil mein Jumpsuit makellos sauber war, war mir der Rest auch irgendwie egal. Ich vergrub meinen Kopf tief im Kissen.
„Gekotzt hab ich nicht. Also kann es nicht so schlimm gewesen sein", ich winkte mit der flachen Hand ab und sah zu Daniel herüber, „das passt schon."
„Tu nicht so, als ob es dir egal wäre."
„Ist es aber. Ich will meine Zeit nicht weiter mit dem Haber verschwenden."
Mein Bruder stand auf und schüttelte den Kopf, bevor er in Richtung des Badezimmers ging. An der Tür drehte er sich nochmal zu mir um.
„Ich weiß, dass er dich verletzt hat. Aber dass du so rachsüchtig und unfair sein kannst, hätte ich nicht von dir erwartet."
Ich plusterte die Wangen auf und streckte die Arme theatralisch in die Luft.
„Was habeee ich getaaan?"
„Du hast seiner Begleitung von seiner Kokskarriere erzählt. Ungefragt und vollkommen deplatziert."
Ich hob den Kopf und starrte Daniel an.
„Das war richtig scheiße und unfair von dir. Ich weiß, dass du Probleme mit ihm hast und ihr hier keinen leichten Start hattet – ob bei dir in der Bar oder auf der Straße. Das weiß ich. Aber dass du rumposaunst, dass das Weiße unter seiner Nase kein Puderzucker ist, war total daneben."
„Oh."
Daran erinnerte ich mich sehr gut.
„Was oh? Ist das das Einzige, was du dazu zu sagen hast?", Daniel sah mich wütend an, „das macht man nicht. Egal, wie doof man jemanden findet."
„Das hast du ja jetzt schon öfter gesagt", ich richtete mich auf und zog mir die Decke über die Brust, „seid ihr jetzt best buddies, dass du mich so anmachst?"
„Das war krass, Emma."
„Jaahaa", ich rollte die Augen, „tut mir ja leid."
„Tut es dir nicht", er verschränkte die Arme vor der Brust, „als wäre es nicht schlimm genug, dass er mehrere Anläufe für die Therapie gebraucht hat, weil er gescheitert ist und es dann doch endlich geschafft hat."
„Stimmt, tut es mir nicht", jetzt verschränkte auch ich die Arme, „weil er ein Arschloch ist, das mir mehr als einmal das Herz gebrochen und mich belogen hat. Er hat mich beschimpft, mir unterstellt, dass ich mich anstellen würde und mal runterkommen sollte. Ich kenne diesen Menschen überhaupt nicht. Ich hatte Angst um sein beschissenes Leben, als ich ihn wegen meiner Sachen nicht erreicht hab. Ich bin hier hingeflogen, weil er im Krankenhaus lag. Ich dachte, er würde sterben. Was denkst du, wie viel Angst ich um ihn hatte? Und das Einzige, was ihm bei unserem ersten Treffen einfiel, war „zwei Bier bitte". Keine Entschuldigung, kein gar nichts. Und auch vorher kam er nicht ein einziges Mal auf die Idee, sich zu melden und mir zu sagen, dass es ihm leid tut. Und dann soll ich noch Rücksicht nehmen? Sorry, aber da hört der Spaß definitiv auf."
Daniel schüttelte den Kopf, ging ins Badezimmer und zog die Tür laut ins Schloss.
Es war schön, dass Daniel sich mit dem Haber gut unterhalten konnte und wollte – aber das war nicht mehr meine Sache. Anfangs war er schwer gewesen, mittlerweile war es mir egal und machte mich nur noch sauer. Vielleicht hätte ich das so nicht sagen sollen. Vielleicht. Aber Daniel musste doch auch verstehen, wie ich mich in dem Moment und die unzähligen Monate davor gefühlt haben musste.
„Er hat sich entschuldigen wollen", Daniel knipste das Licht im Bad aus, „hat sich aber nicht getraut."
„Feigling", wieder ließ ich mich in die Kissen fallen, „das war ja klar."
„Hör doch mal zu", er setzte sich an das Fußende des zweiten Bettes, so dass ich meine Beine anziehen musste, „er stand vor deiner Tür."
„Aha."
„Er wollte mit dir reden und hat sich das nicht getraut."
„Aha."
„Du bist so stur. Unfassbar", wieder schüttelte mein Bruder den Kopf, „Samu wollte mit dir reden, bevor du aus deiner Wohnung ausgezogen bist."
„Aha", ich gähnte unbeteiligt, „und?"
„Er hatte Angst vor deiner Reaktion. Deshalb ist er wieder gefahren."
„Wann hat er dir den Scheiß denn erzählt?"
„Gestern Abend", Daniel sog scharf die Luft ein, „Samu wollte schon längst mit dir gesprochen haben, hat sich aber nicht getraut."
„Das passiert."
„Du bist unglaublich verbohrt, weißt du das? Er ist für dich nach Deutschland geflogen, wollte mit dir reden und hat sich nicht getraut. Und du erzählst lauthals im Löyly, dass er kokst. Ganz tolle Aktion."
„Hoffentlich war die Presse da und hat sich das notiert", meinte ich, hechtete aus dem Bett und ging ins Bad.

Daniel hatte mir den Walk of shame erspart und ließ mich auch nach der Auseinandersetzung bezüglich des Habers im Hotel duschen, so dass ich einigermaßen wie ein Mensch aussah. Wenn auch ohne Schminke und eigene Haarbürste. Als ich das Klaus K am Bulevardi verließ, steuerte ich gezielt in Richtung Hauptbahnhof, um mit dem Zug nach Hause zu fahren. Ich hätte auch den Bus nehmen können, aber der fuhr viel länger und so würde ich wenigstens ein bisschen frische Luft schnappen. Mir war noch etwas schwindelig und irgendwie war ich noch immer wackelig auf den Beinen. Schlaf nachholen und weiter ausnüchtern stand auf meiner Agenda. Und vielleicht etwas essen.
Plötzlich stieg mir der Geruch von Frittierfett in die Nase und aktivierte damit mein Katerzentrum.
„Du brauchst fettige Pommes und einen Burger", schrie es mich an.
Kurz blieb ich stehen, überlegte und verlor den Kampf.
Zielstrebig bog ich nach rechts in ein bekanntes Fastfood-Restaurant, bestellte mir eine große Pommes mit Mayonnaise und einen Burger ohne Tomaten. Mit der braunen Tüte in der Hand, verließ ich das Schnellrestaurant und ging die Straße zum Bahnhof hinunter.
Auf dem Weg mümmelte ich immer wieder ein paar Pommes und war mir spätestens in der Bahnhofshalle sicher, dass die Kartoffelteile den Weg nach Hause nicht überleben würden.
Also zog ich mir ein Ticket, ging zum Gleis und sah verdutzt auf die andere Seite, auf der der Haber mit einer kleinen Blondine stand.
Es war ganz sicher der Haber.
So, wie er da stand: Kapuze im Gesicht, Sonnenbrille auf den Augen, Händen in den Taschen, Sweater bis zum Anschlag zugezogen.
Als würde hier irgendjemand einen Fick darauf geben, wer er war. Die finnische Presse war sicher froh, wenn er nicht irgendwo auftauchte und dummes Zeug von sich gab.
Ich drehte die Musik am Handy lauter und wippte mit dem Fuß zu irgendeinem Song aus den 90ern, während ich in der Gegend herum guckte und mich absichtlich vom Haber und seiner Begleitung wegdrehte.
„Dass das Weiße unter seiner Nase kein Puderzucker ist, war total daneben", hörte ich meine innere Stimme, alias meinen Bruder, in meinem Kopf sagen.
Ich verdrehte die Augen.
Ja, das war scheiße.
Ok.
Macht man nicht, ja.
Habe ich verstanden.
Tut mir trotzdem nur ein bisschen leid.
Vielleicht wäre es cooler gewesen, dem Haber einfach eine reinzuhauen.
„Ungefragt und vollkommen deplatziert", fügte die Stimme noch hinzu.
Ich ließ Luft zwischen meinen Lippen entweichen.
Ich konnte doch jetzt nicht ernsthaft rüber gehen und mich entschuldigen, damit ich meinen beschissenen Seelenfrieden zurück hatte und mir niemand vorhalten konnte, dass ich ein schlechter Mensch war.
Oder doch?
„Stirb, Daniel", nuschelte ich in meinen nicht-vorhandenen Bart und versuchte unauffällig auf das andere Gleis zu schielen.
Blöd nur, dass der Haber mich dabei schon längst gesehen hatte.
Als ich ihm ins Gesicht sah, hatte er mich schon längst fixiert.
Die Sonnenbrille abgenommen und die Arme vor der Brust verschränkt.
Und er war mittlerweile allein.
Ich hob also den Kopf, steckte mir beiläufig eine Haarsträhne hinter das Ohr und versagte kläglich, auch nur ansatzweise irgendeine Art von Souveränität auszustrahlen.
Ich stellte mich gerade hin und sah direkt zum Haber herüber.
Ich tippte auf meine nicht-vorhandene Armbanduhr und zeigte mit Zeige- und Mittelfinger eine Zwei – in der Hoffnung, dass er so viel IQ besaß, um meine Zeichensprache zu verstehen.
Er, ich, zwei Minuten zum Reden.
Gleichgültig zuckte der Haber mit den Schultern und machte sich – ebenso wie ich – auf den Weg in die Haupthalle.
Wir kamen vor Hesburger zum Stehen.
„Moi", sagte der Haber.
„Hi", gab ich kurz zurück.
„Was willst du?"
„Ich wollte mit dir über gestern reden."
„What?", er lächelte mich abschätzend an.
„Ich wollte mich entschuldigen."
„What?", wieder lachte der Haber.
„Ich hätte das mit dem Puderzucker gestern nicht sagen sollen. Das war total scheiße von mir."
„Aha. And now?"
„Ich wollte das nur sagen. Das ist alles."
„Now du hast gemacht."
„Jo", ich nickte und wollte gerade wieder zurück zu den Gleisen gehen, als Samu meinen Oberarm fest umklammerte und mich dicht an ihn heranzog.
„Tiedätkö kuinka paljon hävetin Rinaa käyttäytymisestäsi? Kuinka voit sanoa sen julkisesti?", sagte er wütend durch die Zähne.
„Was?"
Er holte tief Luft und sah mich durchdringend an.
„I felt ashamed of you. Of what you've said. Gestern. Wie du kannst sagen sowas in die public? I know, dass du bist angry und verletzt and I know, dass ich bin too late mit eine Sorry. But believe me: I am."

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