132, 133, 134, 135, 136

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Am frühen Abend betrat ich das Krankenhaus durch die großen Eingangstüren. Als hätte es nicht gereicht, dass ich das letzte Mal hier gewesen war, als der Haber sich dem Kokain verschrieben hatte.
An der Rezeption saß ein Mann, der mir freundlich zunickte, als ich etwas verloren auf die Orientierungskarte zu meiner Rechten sah. Überall Farben, Zahlen, Buchstaben, Pfeile hoch und runter, rechts, links. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich Mikko finden würde. Chirurgie? Neurochirurgie? Und selbst, wenn ich das gewusst hätte: Auf welcher der Stationen hätte ich suchen müssen? Chirurgie 1, 2 oder 3? Oder Neurochirurgie 1 oder 2?
Fragen musste ich auf jeden Fall. Davor konnte ich mich nicht drücken.
Genervt pustete ich die Wangen auf und sah wieder zur Rezeption.
„Anteeksi", begann ich, um dann ins Englische zu wechseln, „ich suche Mikko Saukkonen."
Der Mann musterte mich skeptisch über den Rand seiner Brille hinweg.
„Ich bin kein Fan", lächelte ich, „ich bin eine ehemalige Mitarbeiterin. Emma Holmberg. Fragen Sie ihn ruhig, falls das nötig ist."
Er schob die Brille mit dem Zeigefinger weiter auf seine Nase und griff entschlossen zum Telefonhörer.
Sah ich wirklich so aus, als würde ich mir während der Konzerte von Sunrise Avenue „Mikko" auf die Wange schreiben?
Für den Mann hinter der Rezeption vermutlich schon. Als wäre sein kritischer Blick nicht Strafe genug gewesen.
Während sich der Rezeptionist mit irgendwem verbinden ließ und auf Finnisch mit 100 verschiedenen Leuten sprach, sah ich mich weiter um.
Wenn die Pflege und die Ärzte nur ansatzweise so gut arbeiteten wie das Krankenhaus aussah, wurde man hier definitiv schnell wieder gesund. Es war hell und offen – und vor allem modern.
„Sorry", der Mann mit der Brille lächelte mich an, „Sie können hoch, Frau Holmberg. Chirurgie 1, Haus D, erstes Obergeschoss, Zimmer 136."
„Vielen Dank", grinste ich und nahm den Lageplan entgegen, bevor ich geradeaus zu den Aufzügen ging.

Zu meiner Rechten lag der Operationstrakt, als ich aus dem Fahrstuhl stieg. Das war mit Sicherheit nicht die richtige Richtung, so dass ich mich souverän für die andere Richtung entschied. Der Gang war sehr breit und vor allem sehr weitläufig. Ich konnte – ganz weit am Ende des Flures – die Türen sehen, die offensichtlich zur nächsten Station führten. Auch hier war alles topmodern und hell. Der Boden war hellgrün und an den Wänden hingen große Photographien von Strand und Meer.
Zwei Pfleger verteilten gerade das Essen aus dem Essenswagen, der bereits auf dem Flur stand und huschten von einem Zimmer in das nächste, als ich weiter über den Flur schlenderte und versuchte, ein System hinter der Zahlenfolge der Zimmer zu erkennen. Ich grinste, als mich eine Krankenschwester mit einem Kopfnicken grüßte und warf ihr ein fragendes „Mikko Saukkonen" an den Kopf. Sie deutete mit dem Daumen auf weiter nach hinten, bevor sie dann schnell in einem Zimmer verschwand.
132, 133, 134, 135, 136.
Für einen kurzen Moment überlegte ich, was ich hier überhaupt zu suchen hatte.
Eigentlich hatte ich keine Berührungspunkte mehr mit der Band, so dass ich mir diesen Gang auch hätte sparen können.
Allerdings hatte mich die Nachricht von Mikkos Unfall schwerer getroffen als ich anfangs vermutet hatte. Als die Jungs mir im Lady Moon eröffnet hatten, warum es ihnen nicht gut ging, war ich erst einmal nur geschockt. Aber auch noch einige Tage später begleitete mich diese Neuigkeit. Ich haderte mit mir: Hingehen oder anrufen?
Und ich entschied mich relativ schnell für einen Besuch, weil ich mich darüber mehr gefreut hätte. Mikko und ich waren immer gut miteinander ausgekommen und ich mochte ihn als Menschen sehr gerne.
Ich atmete tief ein und klopfte dann drei Mal an die Tür, bevor ich eintrat.
Ein großer Mann mit brauen Haaren und weißem Kittel stand mit dem Rücken zur Tür und erklärte dem Patienten im ersten Bett gerade irgendetwas auf Finnisch. Er hielt die Hände hoch und gestikulierte wild.
Ich räusperte mich, ging einen Schritt weiter nach rechts, um um die Ecke sehen zu können - woraufhin sich der Arzt zu mir umdrehte und ein Grinsen aufsetzte.
„Moi", sagte er.
Ich lächelte und sah Mikko auf der Bettkante am ersten Bett sitzen. Müde und ausgemergelt. Das Bett am Fenster war leer.
„Soll ich draußen warten?", fragte ich auf Englisch, woraufhin der Arzt den Kopf schüttelte, seinen Kittel kurz zurechtzupfte und sich dann mit „nähdään myöhemmin" verabschiedete.
Ich wartete noch kurz, ging dann an das Fußteil des Bettes und grinste Mikko an.
„Moi", meinte ich und legte den Kopf schief.
Er grinste und breitete die Arme aus.
Sofort ging ich zu ihm und umarmte ihn fest.
Plötzlich fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen.
Kein Koma, kein Rumliegen.
„Wie geht es dir?", fragte ich und setzte mich neben ihn auf das Bett.
„Gut. Also eigentlich", Mikko zeigte auf sein Knie, „das ist noch nicht wieder fertig, aber sonst ist wirklich alles in Ordnung."
„Ich hab dir", ich kramte in meiner Handtasche, „die neue Ausgabe von „Rolling Stones" mitgebracht. Und 'ne Tafel Schokolade. Ich wusste nicht, wie gut das Essen hier ist."
„Danke", er nahm beides entgegen und legte es auf sein Kopfkissen, „das wäre aber nicht nötig gewesen."
„Weiß ich. Aber ich hab das gerne gemacht."
„Woher weißt du, dass ich hier bin?"
Und dann erzählte ich von dem Abend im Lady Moon und den Jungs, die aussahen, als hätten sie ein Rehkitz überfahren. Und davon, dass sie mit der Arbeit nicht mehr hinterher kommen. Wir redeten lange, bis Mikko mich irgendwann bat, mit ihm an die Luft zu gehen, weil er noch nicht vor der Tür gewesen war. Ich flitze ins Schwesterzimmern am Ende des Flurs, erkundigte mich nach einem Rollstuhl und ging dann zielstrebig in das Lager, was gegenüber von Mikkos Zimmer war. Die Tür war nicht verriegelt, so dass ich in den Raum stolperte und den Arzt von vorhin dabei störte, in sein Brot zu beißen. Er hielt die Stulle in der Hand und hatte den Mund geöffnet.
„Oh", ich blieb kurz verwundert stehen, „tut mir leid. I mean. Sorry."
„Entschuldigung angenommen", sagte er in akzentfreiem Deutsch und biss dann ab.
Ich war mir schon bei seinem „Nähdään myöhemmin" vorhin in Mikkos Zimmer nicht ganz sicher gewesen, ob er wirklich Finne war. Das klang irgendwie unsauber. Nicht so schlecht wie meins, aber auch nicht wirklich eines Muttersprachlers würdig.
„Ich wollte nur", stammelte ich und deutete auf den Rollstuhl, „mit Herrn Saukkonen vor die Tür. Luft schnappen."
„Aus ärztlicher Sicht", mümmelt er, „spricht nichts dagegen. Schön, dass Sie sich kümmern."
Ich grinste, entsicherte den Rollstuhl und fuhr zur Tür.
Der Arzt legte seine Brotdose auf die lange Arbeitsplatte, die auf den Schränken lag und zog die schwere Tür nach innen auf.
„Dankeschön, Herr...?"
„Strebebaum. Ich würde Ihnen die Hand geben, aber", er zeigte mit dem Kopf auf die Türklinke und anschließend auf das Brot in seiner Hand, „aber ich habe die Hände voll, Frau?"
„Holmberg", antwortete ich, „guten Appetit."
„Dankeschön. Bitte verraten Sie mich nicht", Doktor Strebebaum zwinkerte, „ich hatte nach der Arztbesprechung noch keine Pause."
„Wenn mich jemand fragt, habe ich Sie nie gesehen", meinte ich und fuhr den Rollstuhl in das Zimmer gegenüber.

Nach einer kleinen Rundfahrt durch das abendliche Krankenhaus stellte ich Mikko vorne am Haupteingang ab und setzte mich auf einen großen, dekorativen Stein, der daneben stand und zündete mir eine Zigarette an.
„Warum sind die Jungs nicht mit dir draußen gewesen?", wollte ich wissen und hielt Mikko meine Zigarette hin.
„Die haben 'n Arsch voll Arbeit. Da geht momentan gar nichts", Mikko zog an der Kippe und gab sie mir zurück, „aber ich hab ja nur 'n Bürojob."
„Dann wissen sie jetzt ganz sicher, dass du auch einen großen Teil leistet."
„Es ist nicht so, als würden sie das nicht wertschätzen. Aber manchmal denken sie, ich würde den ganzen Tag im Büro sitzen und Minesweeper spielen."
„Spätestens jetzt wissen sie, dass du das nicht immer machst."
„Nur an drei von fünf Tagen, genau", Mikko lachte, „vor ein paar Monaten war selbst mir die ganze Organisation zu viel. Ich hab Termine durcheinander gehauen und Deadlines nicht eingehalten."
„Aber geht es euch finanziell so schlecht, dass ihr nicht noch jemanden einstellen könntet?", wollte ich wissen.
Mikko legte den Kopf schief und runzelte die Stirn.
„Ja nicht?", ich zuckte mit den Schultern, „wieso stellt ihr nicht jemanden zusätzlich ein? Der dich entlastet?"
„Du bist wie Samu", er grinste, „genau so."
„Warum?"
„Er hat das auch gesagt."
„Aber das ist ja normal. Wenn ich viel zu tun hab, muss ich jemanden einstellen, weil ein Tag bei mir auch nur 24 Stunden hat. Das ist ja nur logisch."
„Mal angenommen", Mikko räusperte sich, „ich würde jemanden einstellen."
„Ja. Dann kannst du was abgeben."
„Und was muss ich vorher machen?", sein Kopf wackelte von rechts nach links, „richtig. Ich muss die Person einarbeiten. Wir brauchen aber jetzt jemanden, dem ich quasi den Schlüssel in die Hand drücken kann und der genau weiß, was zu tun ist. Gerade jetzt. Vor ein paar Monaten auch. Aber gerade jetzt."
Mein Kopf ratterte.
Und noch bevor ich irgendwie objektiver darüber nachdenken konnte, sprudelte es aus mir heraus.
„Gibt es was, was ich tun kann? Um dir zu helfen?"
Mikko plusterte die Wangen auf deutete auf meine Zigarette.
Wir beide kannten die Antwort in diesem Moment.
Und es wäre für Mikko um einiges leichter gewesen, wenn ich mich sofort von mir aus angeboten hätte.
„Du könntest meinen Job machen", er zog an der Kippe und blies den Qualm aus, „aber das kann ich nicht von dir verlangen."
Und damit hatte er vollkommen recht. Aber ich hatte gefragt, wie und ob ich ihm helfen kann. So gesehen hatte ich ihm also die Möglichkeit für alles gegeben.
„Stimmt, du kannst es nicht verlangen. Aber ich habe dich gefragt."
Er grinste und gab mir die Zigarette zurück.
„Hast du den Gedanken weitergesponnen?"
„Wegen dem Haber, meinst du?"
Mikko nickte.
„Nicht weiter als bis zu „wie kann ich helfen" – nein."
Mikko kratzte sich am Bart.
„Würdest du meinen Job machen, so lange ich hier festsitze und zur Reha muss?"
Ich grübelte.
Und dachte an den Abend im Lady Moon zurück, an dem der Haber so etwas ähnliches hatte anklingen lassen.
„Du weißt, wie der Hase läuft. Du weißt, was zu beachten ist. Du bist die Person, die nur den Schlüssel braucht", schob Mikko nach.
Meine Stirn legte sich in Falten.
Der Rattenschwanz, der da dran hing, war endlos lang.
„Natürlich würde ich dafür sorgen, dass du Samu nicht über den Weg laufen müsstest. Es geht auch eher um Niila und Leo, die die Jungs jetzt neben der Band noch mitbetreuen müssen. Und selbst bei Leo gibt es immer noch Alina und Toni, die da ein bisschen Mehrarbeit vertragen könnten. Du würdest dich also quasi nur um Niila kümmern müssen."
„Ich tu das für dich", ich nahm einen tiefen Zug der Zigarette, „nicht für Sunrise Avenue oder sonst wen."
„Das weiß ich", er lächelte, „und ich weiß das zu schätzen, dass du dich anbietest. Wirklich. Aber so weiß ich, dass sich jemand, der Ahnung hat, darum kümmert."
Ich stand auf und trat die Zigarette auf dem Boden aus und fröstelte kurz, als ein Windstoß über das Gelände fegte.
„Können wir rein?", wollte ich wissen und zog die Schultern hoch.
„Klar", er setzte sich gerade hin und legte die Hände an die Räder des Rollstuhls, „ich muss da ja sowieso noch einen Vertrag fertig machen."
„Du spinnst", sagte ich kopfschüttelnd, „nimm die Hände da weg, ich fahre."
„Frau am Steuer, vorsichtig!"
„Ich kann dich auch hier einfach runterrollen lassen", ich löste die Feststellbremse und schob Mikko in Richtung des Eingangs.
„Das würdest du nicht tun."
„Sicher?", ich stoppte und sah Mikko von der Seite an.
„Sicher", grinste er zufrieden und wirkte, als sei auch ihm heute ein Stein vom Herzen gefallen.

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