Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken

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Ich sah mich möglichst unbeteiligt auf der beleuchteten Terrasse um, während Daniel immer noch beim Haber festhing. Mehrmals versuchte ich Blickkontakt zu meinem Bruder herzustellen, aber Samu hatte ihn mit seinem Blick so sehr eingefangen, dass eine Flucht unmöglich schien. Ungeduldig tippte ich mit den rotlackierten Fingern auf dem Tisch rum und hoffte sekündlich, dass Daniel eigenständig aus dieser Situation fliehen konnte.
Aber das passierte nicht.
Die Minuten verstrichen und scheinbar hatten die Beiden sich so einiges zu erzählen. Zumindest unterhielten sie sich sehr angeregt.
Wer konnte es ihnen verübeln? Hatten sie sich doch schon ewig nicht mehr gesehen...
Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht recht, was in dieser für mich durchaus pikanten Situation angemessen war. Eine Möglichkeit war, rüberzugehen, Daniel plus Lonkero einzusammeln und sofort wieder zurück zum Tisch zu gehen. Eine Andere war das Ausharren und Warten.
„Na gut ey", genervt blies ich mir eine Haarsträhne aus meinem Gesicht und stand auf: Ich hatte mich für Variante eins entschieden. Ganz spontan und vermutlich auch nur, weil ich getrunken hatte.
Ich ballte die Fäuste auf dem Weg zur Bar, knackte einige Male mit den Fingerknöcheln und fühlte mich – auf Grund des Alkohols – total selbstsicher und cool. Was sollte der Haber mir anhaben? Was könnte er tun um mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen?
Gar nichts mehr.
„Danke, dass du ihn gefunden hast", ich fasste Daniel an die Schulter und unterbrach damit einen Lacher der beiden Männer, „ich nehme ihn dann wieder mit."
„Moi", Samu lehnte sich auf dem Stuhl zurück und hielt ein Colaglas in der Hand.
„Jap", ich sah Samu kurz an und dann wieder zu Daniel, „hast du die Bestellung?"
„Noch nicht", Daniel grinste verunsichert, „aber guck: Ich weiß jetzt, zu wem der Rücken gehört."
Das hatte er nicht gesagt.
Bitte bitte nicht.
„Was ist mit meine back?", Samu klinkte sich ein und trank einen Schluck.
„Och", Daniel winkte belanglos ab, „wir haben nur gerade darüber gesprochen."
Ich plusterte die Wangen auf und sah mit aufgerissenen Augen zu Boden.
Irgendwann würde ich meinen Zwillingsbruder umbringen. Wann wusste ich noch nicht. Aber der Moment würde kommen, da war ich mir sicher. Spätestens morgen früh würde ich ihn dafür in irgendeiner Art und Weise bluten lassen.
„Anteeksi!", fix zog ich Daniel aus der Besucherritze zwischen dem Haber und dem Mann zu seiner Linken, schob mich dazwischen und lehnte mich auf den Tresen, „kaksi Lonkero!"
„Was ist mit meinem back?", fragte Samu wieder.
„Finden wir gut!", antwortete Daniel so laut, dass es jeder hier gehört haben musste.
Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken.
„Aha?", Samu beugte sich grinsend zu mir auf den Tresen und verschränkte die Arme darauf.
„Ich wusste nicht, zu wem der Rücken gehört", stellte ich klar und sah, wie sich die Lachfalten um seine Augen herum selbstständig machten.
„Sure?", sein Grinsen wurde immer breiter.
„Oh Gott, ey", wieder plusterte ich die Wangen auf, „ja man."
„Hm", Samu nickte und drehte sich wieder zu Daniel, den er sofort wieder in ein Gespräch verwickelte.
Ich hingegen lag immer noch auf der Theke und wartete, dass man mir endlich den Lonkero brachte. Mehr wollte ich in diesem Moment gar nicht.
Nachdem ich zwei nach gefühlten Stunden endlich mit Karte bezahlt hatte, zog ich mich aus der Lücke und drückte Daniel das volle Glas wortlos in die Hand – in der Hoffnung, dass er das Gespräch schnell beenden würde, damit wir zurück zu unserem Tisch gehen konnten.
„Ey Emma", er stieß mich an der Schulter an, so dass ich etwas von meinem Getränk verschüttete, „hör auf zu saufen wie ein Loch. Sonst landet ihr wieder im Bett. Ihr könnt immer nur gut miteinander, wenn ihr besoffen seid."
In diesem Moment fiel mir alles aus dem Gesicht. So sehr konnte mein Bruder mich doch nicht hassen, dass er ausgerechnet die Story jetzt wieder auspackte?
Als ich für die Zeitung damals in Berlin gewesen war und mich ins Nachtleben gestürzt hatte, war mir Samu über den Weg gelaufen. Wir hatten beide zu viel getrunken und landeten letztlich in seinem Hotelzimmer. Bis heute hatte ich keine Erinnerungen mehr an diese Nacht – Samu allerdings schon. Denn er hatte mir in einem Streit aufs Brot geschmiert, dass wir sehr wohl Sex gehabt hatten; auch, wenn er mir vorher etwas anderes erzählt hatte.
Und Daniel wusste davon, weil ich ihm die ganze Leidensgeschichte, die diese ständige On-Off-Beziehung umrankte, erzählt hatte. Danach war es mir besser gegangen. Nichtsdestotrotz war ich jetzt in diesem Moment nicht davon ausgegangen, dass er ausgerechnet DAS auspackte. Ich war wahnsinnig wütend.
„Daniel, wir gehen jetzt", sagte ich undeutlich nuschelnd durch die Zähne.
„Bro", ich hörte ein Lächeln in Samus Stimme, „ich trinke nicht."
„Wie?", Daniel ignorierte mich und schaute wieder zum Haber, „Du trinkst nicht mehr?"
„Ich trinke nicht mehr, „wiederholte der Haber, „ich mache nothing. Also keine Alkohol, no drugs."
„Dafür kokse ich jetzt für zwei!", sagte ich laut und nahm einen riesigen Schluck.
Jetzt war der Abend sowieso gelaufen. Samu hatte Daniel in ein nie enden wollendes Gespräch verwickelt und ich war total betrunken. Schlimmer konnte es jetzt sowieso nicht mehr werden.
„Stop it", Samu stand plötzlich neben mir und legte seine Hand auf meine Schulter.
Ich sah ihn an und schwenkte dann den Blick zu seiner Hand.
„Also", fing Daniel an, bevor ich etwas sagen konnte, „wie jetzt?"
„Ich war in die therapy", er ließ mich los und wandte sich Daniel zu, „you know von meine problem?"
Daniel deutete mit dem Kopf auf mich und nickte.
„Ich bin noch hier", meinte ich sauer und irgendwie auch gleichgültig, „ich kann das sehen."
„Maybe wir sollten gehen eine Stückschen?", bot Samu Daniel an, „maybe wir finden eine seat upstairs?"
„Da ist es kalt", warf ich ein, „deshalb sind wir hier unten."
„Dann nimmst du dir eine Decke", Daniel hatte den Befehlston angeschlagen, „und machst dir warme Gedanken. Stell dich mal nicht so an."

Ich war in eine Decke eingehüllt und nippte an meinem Bier – in der Hoffnung, ich würde aus diesem Traum erwachen. Der Alkohol hatte mir eine gewisse Scheißegal-Haltung verschafft und trotzdem fühlte ich mich neben Daniel und gegenüber vom Haber nicht wirklich wohl. Mich interessierte seine Therapiegeschichte nicht im Geringsten. Während Samu von einer Klinik in der Schweiz erzählte, sah ich auf den bereits dunklen Horizont und rieb die Füße in meinen Schuhen aneinander, damit sie nicht erfroren und abfielen.
„Und dann bist du nach deinem Rückfall nochmal hin? Warum genau?", Daniel hing an Samus Lippen und stellte eine Frage nach der anderen.
Ich rollte die Augen.
Das sagte das Wort doch schon.
Rückfall.
Man geht dann nochmal hin, um sich nochmal helfen zu lassen.
Blöde Frage.
„Weil es war meine last chance for this therapy. I knew, dass es ist vielleicht meine last chance in life. Maybe next time ich schlafe forever."
So ein langweiliger Scheiß. Glaubte er sich das etwa selbst?
„Wers glaubt", ich warf den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel.
„Pscht!", Daniel schlug mir auf den Oberschenkel und wandte sich dann wieder dem Haber zu, „und das hat geklappt?"
Als wäre es nicht scheißegal, ob es geklappt hatte.
„Yes", Samu nickte, drehte das Colaglas in seinen Händen und sah zu Boden, „viel conversation mit Kai und andere guys, viel sports mitmy trainer, no alcohol, no cigarettes, no cocaine."
„Andere hören auf zu rauchen und wieder andere fangen an", ich zog meine angefangene Schachtel Marlboro und ein Feuerzeug aus der Handtasche, zündete mir eine Zigarette an und warf dann beides auf den Holztisch vor uns.
„Can I?", Samu stellte die Cola ab und zeigte auf die Schachtel.
„Sure", ich zuckte desinteressiert mit den Schulter und sah wieder auf das dunkle Meer.
„Das ist die einzige thing", er lachte und drehte das Rädchen des Feuerzeugs, „sometimes ich trinke redwine and I smoke my cigarettes."
Aha. Rotwein. So viel zu „ich trinke nicht".
„Konsequent", meinte ich ironisch und sah zu ihm herüber.
Es war zu dunkel, als dass ich sein Gesicht noch sehen konnte. Allerdings sah ich die Glut der Zigarette und wie sie von seinem Mund zu seinen Händen wechselte.
„Besser Zigaretten als Koks", maßregelte Daniel mich und wandte sich dann wieder an Samu, „und jetzt? Hast du noch Gespräche?"
„Sometimes, wenn ich habe keine gute Tag. But das ist sehr sehr selten. I do a lot of sports und dann my head ist wieder frei. I felt very bad in die times mit die drugs und die haben keine part in my life anymore. Ich habe keine contact mehr zu die Leute mit die drugs. I wanna be healthy."
Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar und zog stattdessen sehr lange an meiner Zigarette.
„Und maybe ich will werden very old", Samu lachte.
„Das ist schön", ich sah, wie Daniel den Kopf schief legte und in meine Richtung sah, „findest du nicht auch?"
„Jo", stimmte ich zu und zeigte mit dem Daumen nach oben.
Selten war mir etwas so egal gewesen wie Samus Leidensgeschichte während seiner beschissenen Therapie. Wie es mir gegangen war, war ihm mal wieder vollkommen egal.
„Mir geht es auch gut!", warf ich anschließend ungefragt in die Runde und blickte zu Samu, „Danke, dass man mich fragt!"
„Sorry", Samu aschte auf den Boden und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel, „sorry, dass ich nicht habe gefragt."
„Ach", ich winkte und lachte ironisch, „alles perfekt! Es könnte nicht besser sein, dankeschön!"
„Samu?", eine Stimme hinter uns ließ mich kurz zusammenzucken.
Ich drehte mich um und sah nur die schemenhaften Umrisse einer kleinen Person, die – der Stimme nach zu urteilen – weiblich war.
„Rina?", Samu setzte sich auf, woraufhin ein finnischer Wortabtausch folgte.
Daniel beugte sich zu mir herüber.
„Was sagen die?"
„Keine Ahnung", ich zuckte mit den Schultern, „woher soll ich das wissen?"
„Du musst doch irgendwelche Fetzen verstehen?"
Ich lauschte – und verstand kein einziges Wort. Mein Finnisch war nicht gut; zusätzlich war ich zu betrunken, als dass ich irgendwas verstehen konnte.
„Nö", ich schüttelte energisch den Kopf, wickelte mich aus der Decke und stand plötzlich neben der Frau, die Samu als Rina identifiziert hatte.
„The white on his nose is no icing sugar", grätschte ich rein.
„What?", Rina unterbrach abrupt ihr finnisches Gespräch mit Samu und verschränkte die Arme vor der Brust. Zumindest sah es so aus.
Und Samu stand auf.
„The white on his nose is no icing sugar", wiederholte ich deutlich zu drehte meinen Kopf zu Daniel, „gehen wir? Ich bin müde."
„Emma?", mein Zwillingsbruder tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, „Was ist los mit dir? Was soll das?"
„Alles bestens", grinste ich breit und ging Richtung Treppe.

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