Kein Problem

211 10 1
                                    

„Du bist so ein blöder Idiot!", fauchte Osmo.
„Ich hab meine Autoschlüssel nicht mit Absicht im Büro gelassen", gab ich zurück, „ich bin doch nicht vollkommen bescheuert."
„Dann fahr jetzt noch hin", schlug er vor, „Emma wird sicherlich nicht mehr im Büro sitzen."
„Fahren? Verarschst du mich etwa?"
„Ach Samu. Komm schon. Eigentlich brauchst du in Helsinki sowieso kein Auto. Ich frag mich, warum das nicht bis morgen warten kann."
„Ich will noch zu Sanna. Heute Abend. Die andere Möglichkeit wäre, dass du mir dein Auto leihst."
„Aber natürlich", antwortete Osmo sarkastisch, „nichts lieber als das."
„Kann ich deine Karre haben oder nicht?"
„Natürlich nicht", prustete er, „du leihst mir nicht mal unser Bandkeyboard über das Wochenende. Und dann willst du mein Auto haben? Vergiss es. Geh ins Büro und hol die Schlüssel."
„Was anderes bleibt mir ja nicht, danke."
„Gerne", frotzelte Osmo, „bis morgen!"
„Bis dann", gab ich noch von mir und legte dann auf.
Emma hatte Mikko tatsächlich gefragt, ob es etwas gab, was sie für ihn tun kann. Und Mikko hatte tatsächlich gesagt, dass sie seinen Job machen soll.
Unter der Bedingungen, dass Emma und ich so wenig Berührungspunkte wie möglich miteinander hatten.
Die Konsequenz daraus war, dass ich ins Büro ging, wenn sie nicht da war. Oder sie kam, wenn ich nicht hin musste. Ich konnte zur Not auch zu Hause arbeiten und so viel an Papier- und Bürokram war es tatsächlich nicht mehr, seitdem Emma sich die Organisation von Niilas Tourdaten und allem, was dazu gehörte, angenommen hatte.
Blöd war nur, dass ich heute einen Off-Büro-Tag hatte und Emma seit heute Mittag eigentlich alleine sein sollte. Weil ich aber die Post holen musste, hatte ich mich am frühen Morgen wie ein Idiot in mein eigenes Büro geschlichen, die Briefe geholt und dann meinen Autoschlüssel in der Küche liegen gelassen. Aufgefallen war mir das allerdings erst, als ich – nach einem Einkauf bei Stockmann und Brunch mit einem Bekannten vom Eishockey – das Auto wieder mitnehmen wollte.
Natürlich hätte ich es noch stehen lassen können, weil ich zu Fuß nach Hause kam. Allerdings gestaltete es sich als schwierig, zu Fuß zu Sanna zu gehen, weil Espoo nicht unbedingt „mal eben" zu Fuß erreicht werden konnte. Und auf den öffentlichen Nahverkehr konnte ich gut und gerne verzichten.
Schon unten an der Tür schloss ich sehr leise auf, als wäre ich auf dem besten Weg dahin, einzubrechen. In gebückter Haltung lief ich durch das Treppenhaus und oben angekommen drehte ich den Schlüssel zaghaft im Schloss herum, um beim Betreten des Flurs festzustellen, dass noch Licht brannte.
Alina und Toni waren in Turku, Mikko im Krankenhaus, die Jungs anderweitig beschäftigt.
Sofern ich darüber informiert war.
Es war schon nach 20.00 Uhr, so dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gab: Jemand hatte vergessen, das Licht auszuschalten – dieser Depp war im besten Fall ich – oder Emma saß noch an ihrem Schreibtisch. Warum auch immer.
Leise drückte ich die Tür ins Schloss und lauschte.
Ich nahm Musik und Stimmen wahr.
Beziehungsweise eine Stimme.
Zusätzlich zu der männlichen Stimme aus dem Song.
Den Büroschlüssel verstaute ich in meiner hinteren Hosentasche und ging dann – möglichst lautlos – in die Küche.
Ich war froh, dass Emma nicht mehr so viel Zeit in diesem abgewrackten Schuppen verbrachte und den Großteil ihrer Zeit tatsächlich bei Tageslicht hier verbrachte. Zwischendurch schob sie natürlich noch ein paar Schichten im Lady Moon, aber die konnte man im gesamten Monat an zwei Händen abzählen.
Es war schön, sie hier zu wissen.
Auch, wenn mir nicht Möglichkeit gegeben wurde, mit ihr zu sprechen.
Nicht, weil sie von Personenschützern umzingelt war, sondern weil sie es nicht wollte. Mikko musste ihr versichern, dass ich nicht im Büro war, wenn sie auch da. Das war für mich unfassbar komisch, aber was anderes als das hinzunehmen blieb mir nicht übrig.
Selbst dann, wenn ich es für völlig daneben hielt.
Und das tat ich.
In der Küche angekommen, schweifte mein Blick über den kleinen Esstisch, hinüber zur Arbeitsplatte und den Küchenblock, auf dem die Anlage stand.
Nichts.
Kein Schlüssel weit und breit.
Kurz dachte ich darüber nach, ob ich ihn vielleicht irgendwo zu Hause deponiert hatte und einfach nicht mehr wusste, wo.
Nachdenklich wischte ich mir mit den Händen durch das Gesicht und ging meinen Weg heute Morgen nochmal gedanklich ab.
Aufschließen, Kaffee kochen, Post von Mikkos Schreibtisch geholt, Kaffee geholt, an Mikkos Schreibtisch gesetzt, Kaffee getrunken, Mails gecheckt.
Kaffeetasse stehen gelassen, Briefe sowie Wohnungsschlüssel aus der Küche geholt, gegangen.
Der Schlüssel lag also noch immer auf Mikkos Schreibtisch.
Der gegenüber von Emmas stand.
Kein Problem.
Eigentlich.
Wenn die Türen und Trennwände nicht verglast wären.
Ich ließ einen Luftstrom zwischen meinen Lippen entweichen, während ich ein Lachen vom Ende des Ganges hörte.
Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich auf die bösen Zwillinge aus Shining tippen.
Eine wirkliche Wahl hatte ich nicht.
Entweder ich verkniff mir ein Aufeinandertreffen oder ich holte mir schnell den Schlüssel und verschwand dann wieder.
„Ist doch albern", sagte meine innere Stimme, „das ist deine Firma und dein Büro. Hol den Schlüssel, grüß vielleicht nett und geh."
„Stimmt", antwortete ich mir selbst, checkte nochmal, ob ich meinen Haus- und Büroschlüssel in der Hosentasche hatte und ging dann den Flur zu den einzelnen Büroräumen entlang.
Je näher ich kam, desto lauter wurde Emmas Stimme und Lachen. Sie schien zu telefonieren und nebenbei schlechte 90er-Jahre Musik zu hören.
Kurz vor ihrem – und somit auch Mikkos Büro – blieb ich stehen, zog das Handy aus der Hosentasche und hielt es mir ans Ohr. Die Idee war mir spontan gekommen. Dann würde es noch weniger so aussehen, als würde ich nochmal herkommen, weil Emma da war.
Was ja auch in Wirklichkeit nicht geplant gewesen war.
Aber es gab immer jemanden, der gegen mich war und mir daraus mit Sicherheit einen Strick drehen würde.
Mit dem Smartphone am Ohr lief ich über den Gang und sprach den Text von „Alle meine Entchen" auf Finnisch ins Telefon und bog dann ganz zielstrebig in das Büro ab, ohne den Blick vom Boden zu lösen.
„Kaikki ankani uivat järvellä", sagte ich noch, bevor ich plötzlich eine sehr warme Flüssigkeit durch meinen Pullover wahrnahm.
Der Stoff saugte sich augenblicklich voll, so dass einzig und allein dunkelbraune Flecken darauf zu sehen waren.
Emma stand vor mir.
Mit offenem Mund.
Dem Handy in der rechten Hand.
Und dem – jetzt leeren – Kaffeebecher in der linken.
Genau zwischen uns.

HandprintsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt