Ich lief immer wieder gähnend neben Rina her. Durch mein eigenes Verschlafen am Morgen hatte mein Rhythmus so sehr gelitten, dass ich auch jetzt – am Abend – immer noch völlig gerädert war und nur mit einem Ohr ihren Worten lauschte. Sie erzählte vom Studium und einem Forschungsbericht, der auf ihrem Schreibtisch lag und noch vor Ende des Semesters fertiggestellt werden musste.
Aha.
Verglichen mit dem Papierkram, der bei uns seit Wochen im Büro herumlag, um den sich bisher niemand gekümmert hatte, war Rinas Forschungsbericht ein Fliegenschiss. Nicht, dass ich nicht wusste, wie anstrengend ein Studium sein konnte und wie viel Arbeit man in so eine Arbeit stecken musste, aber ich war gerade nicht in der Laune, mich ausgiebig mit irgendwelchen chirurgischen Anatomiefragen zu beschäftigen. Auch, weil ich davon einfach überhaupt keine Ahnung hatte. Wenn ich mir mal in den Finger schnitt, holte ich mir ein Pflaster – Ende der Geschichte.
„Kannst du darten?", wollte Rina wissen, nachdem ich auf ihre Anatomiefrage nicht geantwortet hatte, „oder ist das 'n Säufersport?"
„Wie kommst du drauf?", ich zog nochmal an meiner Zigarette und blies den Qualm in die Luft.
„Kannst du oder kannst du nicht?", wiederholte sie.
„Ich kann. Die Frage ist nur, ob ich will."
„Warst du schonmal im Lady Moon?"
„Nein, noch nie. Ich wohne erst sein zwei Wochen hier und habe nichts außer dem Bahnhof und Stockmann gesehen", zog ich sie auf, „verarscht du mich? Ich kenne den Besitzer."
„Oh, ein Platzhirsch", Rina lachte und boxte mir auf den Oberarm, „dann kannst du mir das ja mal zeigen. Getränke gehen auf mich!"
Mir fielen noch gut zwei bis drei weitere Bars und Clubs in und um Helsinki herum ein, die eine Dartscheibe in ihrem Inventar hatten. Schleierhaft war mir, warum es ausgerechnet diese abgeranzte Bar sein musste.
„Ich bin müde", gähnte ich, „ich hatte einen Scheißtag. Können wir das verschieben?"
„Willst du kneifen?", Rina zog die Augenbrauen hoch, „weil du alt bist?"
„Witzig", ich rollte mit den Augen, „ich hatte heute im Gegensatz zu dir schon 'n paar Termine. Ich bin kein Student, der den ganzen Tag rumgammeln kann."
„Du willst kneifen", Rina verschränkte die Arme vor der Brust und blieb stehen, „alter Mann."
„Traurig genug, dass du mit mir rumhängen musst", ich wischte mir einen imaginären Fussel von der Schulter und ging ein paar Schritte weiter, „hast wohl keine anderen Freunde."
„Wenn du wüsstest, Haber!", sagte Rina laut und kam angerannt.
„Jaja", ich schmatzte triumphierend, „ohne mich kommst du in den Schuppen nicht rein, schon gut."Ich wusste, warum ich meine Müdigkeit als Grund vorgeschoben hatte. Auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte: Das war Emmas Arbeitsplatz. Ich wollte ihr – nach heute Mittag – ungern auch hier nochmal über den Weg laufen.
Mit den kälteren Temperaturen kamen auch die Menschen wieder in die Bar und es war voller als bei meinem letzten Besuch. Einige Kumpels vom Eishockey saßen auf den Ledersofas und grüßten betrunken, während in der anderen Ecke irgendein Pärchen wild miteinander rumknutschte.
„Willst du 'n Bier?", fragte ich Rina, als wir auf dem Weg zur Bar waren, „oder lieber Wasser?"
„Wenn dann Bier", sagte sie, „ich hab jahrelang Handball gespielt, ich kann das ab."
„Flasche oder Fass?"
„Fass. Wollte ich nicht bezahlen?", Rina hielt mich am Arm und legte den Kopf schief, „als Gegenleistung?"
„Du bist arme Studentin, lass das man den alten Mann machen", zwinkerte ich und zeigte auf die Dartscheibe, „du kannst schon mal deine Position einnehmen."
„Samu Haber", sie schüttelte den Kopf, ließ mich los und ging in den hinteren Bereich der Bar, wo einige Trunkenbolde an den Tischen hingen und Rina wie Frischfleisch hinterher starrte. Das Lady Moon war ein furchtbar zwielichtiger Schuppen; nicht zuletzt, weil diese ekelhaften Typen Rina wie Ware angafften.
Ich hielt mich im Barbereich auf und suchte jemanden, der definitiv nicht Emma sein konnte. Als ich einen freien Platz am Tresen ergattert hatte und ein zufälliges Treffen mit ihr ausschließen konnte, lehnte ich mich auf eben diesen und wartete, bis mich jemand bediente.
„Bin gleich bei dir!", rief Noora, die eine Kiste Bier von A nach B rückte.
Wenn nicht Emma, dann ihre beste Freundin. Auf eine von beiden musste ich ja treffen.
Karma is a bitch.
„Hei, zwei Bier bitte", sagte ich so beiläufig wie möglich und sah an die Decke.
„Klar, mach ich dir, Samu", entgegnete Noora und legte den Kopf schief, „Flasche oder Fass?"
„Fass", gab ich kurz zurück und sah mich weiter im Laden um.
„Wie geht's dir so?", versuchte Noora ein Gespräch aufrecht zu erhalten.
Es war wirklich ranzig hier.
Und abgewrackt.
Und alt.
„Gut, gut", ich tippte mit den Fingerspitzen auf dem Tresen irgendeinen Rhythmus, „bei dir?"
„Ja, auch", sie stellte mir die zwei Gläser vor die Nase, woraufhin ich ihr kommentarlos meine Kreditkarte entgegenhielt.
Sie kassierte ab und gab sie mir zurück.
„Kannst du mir noch Pfeile geben?"
„Bist du Daryl Dixon oder was?", Noora lachte und schmunzelte.
„Für's Darten", mit rollenden Augen machte ich eine nicht ganz ernstgemeinte abfällige Handbewegung.
„Du kannst Darten?", sagte Noora anerkennend und sah zur Dartscheibe, „ich dachte, du beschränkst dich auf das Gitarrespielen. Pass auf, dass du deine Finger nicht aufschlitzt."
„Noora!", ich lachte, „los!"
Sie griff unter den Tresen, holte zwei Packungen mit grünen und roten Dartpfeile hervor und schob sie mir über den Tresen.
„Wiederbringen!", rief sie mir nach, als ich schon auf dem Weg zur Dartscheibe und somit zu Rina war.
„Musstest du erst noch den Hopfen ernten?", lachte sie und griff nach einem der Biere.
„Musste die Gerstenkörner noch trocknen und schroten", ich trank einen Schluck aus meinem Bierglas, zog die zwei Packungen mit den Dartpfeilen aus meiner hinteren Hosentasche und legte sie auf den Tisch in unmittelbarer Nähe, „trink, solange man dich nicht rauswirft."
„Haha", Rina äffte mich nach und kam dann ein Stück näher, „und dann zeigst du mir, wie man Dart spielt?"
Ich stellte mein Glas neben die Pfeile auf den Tisch, packte diese aus und hielt Rina die grünen hin.
„Jeder Trottel kann darten", ich warf einen Pfeil in die Luft und fing ihn wieder auf, „auch du."
„Ich hab 12 Jahre Handball gespielt", sagte Rina wieder.
„Ja und?"
„Ich hab immer den falschen Fuß vorne. Links statt rechts", sie stellte sich in einigem Abstand vor die Dartscheibe und zeigte auf ihre Füße, „siehst du."
„Wirf mal", meinte ich, nachdem sie ihre Fußstellung korrigiert hatte.
Rina ging einen Schritt zurück, stellte wieder den falschen Fuß nach vorne und warf den Dartpfeil Richtung Scheibe, als würde sie auf ein Tor zuwerfen. Mit wenig Gefühl, aber viel Kraft.
Und verfehlte knapp.
Ich stand mit verschränkten Armen hinter ihr und musste ein Lachen unterdrücken.
„Wieso sieht man beim Darten nicht, dass du gespielt hast?"
Rina drehte sich um und warf ihren blonden Zopf nach hinten.
„Was warst du? Torwart?"
„Torhüterin", verbesserte sie mich und streckte die Zunge raus, „du Trottel."
„Du wirfst, als wolltest du die Scheibe töten. Sollst du aber gar nicht. Nur treffen."
„Und Punkte?"
Ich winkte ab.
„Du musst es erstmal schaffen, keine Löcher in die Wand zu werfen. Danach reden wir über Punkte", ich zog den Pfeil aus der Wand neben der Dartscheibe und gab ihn ihr zurück, „sei mal locker und lass dich gehen."
Rina atmete tief aus, nahm den Pfeil wieder in die Hand und zielte auf das Bullseye.
„Vergiss es", wieder lachte ich und stellte mich anschließend hinter sie, um ihre Handhaltung zu korrigieren, „triff erstmal nur die Scheibe. Egal wo."
Ich griff leicht an ihren Unterarm, schob ihn etwas höher, ihr Handgelenk etwas nach unten und hob ihr Kinn an.
„Versuchs mal so", sagte ich leise an ihrem Ohr.
Rina drückte ihren geraden Rücken fest an mich.
„So?", ihre großen blauen Augen mit den wahnsinnig langen Wimpern klimperten mir entgegen.
Woraufhin ich mich zu einem Kuss hinreißen ließ, den ich – sobald sich unsere Lippen berührt hatten – abbrach.
„Denk an deine Füße", meinte ich und wich gleichzeitig einen Schritt zurück, um an den Tisch zu langen und einen Schluck Bier zu trinken.
Ich hatte gerade überhaupt keine Lust auf was Zwischenmenschliches. Dass sie sich vor wenigen Sekunden so an mich gepresst hatte, war mir unangenehm und hatte meinen Verstand für einen Moment ausgeschaltet. Rina war süß, nett und attraktiv, aber mein Kopf war voll mit anderen Dingen, die keinen Platz für sie ließen.
Ich hörte, wie sie einige Pfeile schmiss und jetzt zumindest die Dartscheibe traf.
„Hilf mir doch mal!", nörgelte sie und sah zu mir herüber, „so bekomm ich nie Punkte."
„Üb mal erst das Treffen", zwinkerte ich, „ich hol nochmal was zu trinken."
„Aber wir haben doch noch was", merkte sie an.
„Ich will 'ne Cola", rechtfertigte ich mich, „du packst das. Ich guck mir das gleich nochmal an."
„Oh, du schon wieder", Noora grinste und legte den Kopf schief, „was brauchst du?"
„Cola", ich nahm auf einem der Barhocker Platz, „bitte."
Sie nickte und holte prompt einen Flaschenöffner sowie eine Colaflasche hervor.
„Mit wem bist du hier?"
„Als hättest du sie gerade nicht schon gesehen", ich zeigte mit dem Daumen auf die Dartecke.
„Die ist süß", Noora strahlte, „Freundin?"
„Eine, ja, aber nicht meine", nickte ich, „und du?"
„Was?"
„Mit wem bist du hier?"
Ihre Stirn legte sich in Falten.
„Verarscht du mich?"
„Mit wem hast du Schicht?", grinste ich.
„Die Üblichen", Noora schüttelte den Kopf, „und 'nem Neuen."
„Ist er schlecht?"
„Er ist neu", Noora wischte über den Tresen, „dauert alles etwas länger und am Ende des Monats müssen wir neue Gläser kaufen. Sonst ist alles beim Alten."
„Das ist schön", ich friemelte an dem Etikett meiner Flasche herum, „freut mich."
Zu gern hätte ich sie gefragt, wo Emma heute war. Die Antwort konnte ich mir gewiss selbst geben, aber ich hätte gerne eine Bestätigung gehabt, auf die mich zu 100% verlassen konnte.
Emma war nicht hier.
Die Tatsache allein war schonmal nicht schlecht.
Das Lady Moon war kein Ort für sie.
Mit den alten Sofas, den abgeranzten Tischen und Stühlen, den Menschen, die hier ein- und ausgingen. Nicht wenige von ihnen sahen aus wie Schwerverbrecher. Dass sie keine waren, stand ihnen schließlich nicht auf der Stirn geschrieben. Das Interior war – optisch – älter als meine Urgroßmutter und es muffte immer, wenn man den Laden betrat. Ich war schon immer gerne hier gewesen – aber Emma? Warum musste sie hier arbeiten? Was war mit dem Löyly oder der Universität? Irgendwo, wo man nicht ständig Angst haben musste, auf irgendwelche Menschen zu treffen, die keine guten Absichten hatten und nicht nur ein Bier bestellten, sondern sie eigentlich gern begrabscht hätten?
„Was willst du wissen?", Noora unterbrach meinen Gedankengang und lehnte sich zu mir herüber, „sie hat heute frei."
„Ah", ich nickte.
Schön. Frei. Muss jeder mal haben. Auch Emma.
„Und sie ist mit Paulus zu Hause", fügte sie hinzu.
„Schön", wieder nickte ich, „dass es ihr gut geht."
„Ja", Noora lächelte, „finde ich auch. Hat etwas gedauert."
„Ich weiß", stimmte ich zu und trank einen großen Schluck, „es ist toll, dass sie bei dir wohnen kann und ihr zusammen arbeitet."
„Na ja. Meistens ja eher nicht. Aber das Wohnen mit Emma ist schon witzig", Noora steckte sich ein Kaugummi aus ihrer Hosentasche in den Mund, „manchmal schreibt sie Pro- un..."
„Und Contralisten, wenn sie sich unsicher ist", ergänzte ich, „ich weiß."
„Natürlich", mit senkendem Kopf räumte sie die Gläser neben mir ab, „tut mir leid."
Ich winkte ab.
„Nichts passiert, passt."
Ich exte die Cola und kramte in meiner Hosentasche nach meiner Kreditkarte.
„Geht aufs Haus", lächelte Noora und rückte ihre Brille zurecht, „deine Freundin wartet schon."
Ich sah zur Dartscheibe und sah Rina erwartungsvoll in meine Richtung sehen.
„Danke", nickte ich Noora zu, stand von dem Hocker auf und ging wieder zurück zu Rina.
Vorbei an den ekeligen Typen, die sie gerade so angegafft hatten.
„Von sechs Würfen habe ich sechs getroffen", verkündete sie stolz.
Ich nahm ihr die Pfeile aus der Hand und legte sie auf den Tisch.
„Lass uns gehen", raunte ich nah an ihrem Ohr.
DU LIEST GERADE
Handprints
Fanfiction"[...] Und dabei sah ich aus wie der letzte Höhlenmensch. Hose und Shirt von gestern, das Shirt zusätzlich verknittert, die Haare nicht gemacht, Speiseeisflecken mit Schokoladenstückchen auf meiner Jacke. Zum Glück hatte ich keine frischen Klamotten...