Eher würde ich mir den Kopf rasieren

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„Zweimal wie immer, Emma!", rief mein anzugtragender Freund Harvey mir entgegen, als sich unsere Blicke trafen und er sich den Platz direkt vor meiner Nase sicherte.
„War scheiße?", wollte ich wissen und langte nach der Flasche Whiskey auf dem Regal über der Theke.
Harvey winkte ab und schüttelte den Kopf.
„Mike hat es versaut. Auf ganzer Strecke. Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem machen soll."
„Bürodienst?"
„Das wäre das Beste", Harvey nickte und zupfte seine dunkle Krawatte etwas zurecht, „vorne am Empfang. Dann muss er immer nur durchgeben, welcher Klient gerade da ist. Da kann er nichts falsch machen."
„Außer den Namen falsch aussprechen", meinte Mike plötzlich, der sich von hinten angeschlichen hatte und auf dem Barhocker neben Harvey Platz nahm, „das wäre ein viel größeres Vergehen."
„Nach heute wäre das das Kleinste übel, wohl wahr!", stichelte Harvey und nahm das Whiskeyglas in die Hand.
Nickend schob ich Mike das Glas vor die Nase und lächelte.
Mike zwinkerte, schwenkte das Glas und nahm dann einen kleinen Schluck.
Bis auf Mike und Harvey war die Bar nicht allzu voll. Ich ging fest davon aus, um 01.00 Uhr den Laden dichtzumachen. Das Wetter in Helsinki war – auf Grund der Nähe zum Wasser – um einige Grad kälter als in Deutschland. Dennoch hatten wir auch hier einen wahnsinnig heißen Sommer zu verzeichnen. Das Leben fand fast ausschließlich auf der Straße, am Löyly oder sonst irgendwo in Wassernähe statt. Dass sich Menschen abends hier ins Lady Moon verliefen, war also eher Zufall, weil es Touristen waren – oder Gewohnheit.
So wie bei Mike und Harvey.
Ich spülte die Gläser im Spülbecken bereits ein zweites Mal gründlich und sah zu meinem Kollegen Pekka hinüber. Er lehnte gelangweilt an der Wand, rollte einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern und deutete mit dem Kopf in Richtung Hintertür, als sich unsere Blicke trafen. Das war unser Zeichen für die Raucherpause. Wir wechselten uns ab; da Pekka aber erst vor ungefähr einer Stunde gekommen war, galt mir die erste Zigarette des Abends. Schnell legte ich das Trockentuch aus meiner hinteren Hosentasche auf den Tresen und griff nach meiner Schachtel Gauloises, die ich hinter dem harten Alkohol versteckt hatte.
„Braucht ihr noch was?", fragte ich Harvey und Mike, die vor mir sitzend wild miteinander diskutierten und dabei gestikulierten.
„Vielleicht gleich einen Leichenwagen", sagte Harvey.
„Also nein. Schön."
„Komm bloß wieder, Emma. Sonst gibt es hier Tote!", schrie Mike, als ich mich umdrehte und Kurs auf den Hinterausgang machte.
„Dafür liebt er dich zu sehr", gab ich noch zurück, bevor ich die schwere Tür ins Schloss fallen ließ.
Draußen auf dem Hof lief ich gegen eine Hitzewand. Es hatte sich nicht im Geringsten abgekühlt und irgendwie fühlte es sich so an, als sei es draußen um einiges wärmer als in der Bar.
Schnell zündete ich die Zigarette an, griff nach dem Handy in meiner Hosentasche und beantwortete die Nachrichten, die ich über den Abend bekommen hatte. Daniel fragte – mal wieder – nach meinem Befinden und hielt mich mit den neuesten Informationen aus der Heimat auf dem Laufenden.
Dazu kam eine Nachricht von Noora, die mir Pizza vom Abendessen übriggelassen hatte und zwei Nachrichten von Paulus, der im Trainingslager Langeweile hatte.
In acht Tagen war er endlich wieder da und ich konnte es kaum erwarten, die Zeit mit ihm gemeinsam zu verbringen. Ohne, dass er oder ich irgendwelche anderen Verpflichtungen hatte.
Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen antwortete ich „miss you, too. can't wait <3", zog ein letztes Mal an der Zigarette und trat sie dann auf dem Boden aus. Den Rauch blies ich aus und steckte mir – bevor in das Lady Moon erneut betrat – ein Kirschkaugummi in den Mund.
Harvey und Mike saßen immer noch da, wo ich sie zurückgelassen hatte und auch sonst hatte sich an der Szenerie nicht viel geändert. Wir waren mittelmäßig gut besucht, alle hatten einen Sitzplatz und die Luft roch nicht nach Alkoholleichen.
„Machst du uns noch zwei?", Mike lehnte sich über die Theke und hielt mir die Gläser hin, als er mich sah, „aber bei Harvey bitte 'n doppelten. Der ist schlecht drauf."
„Jaja, ich hab schon gehört. Du hast es verkackt?"
Mike druckste herum und zog die Schultern hoch.
„Er auch. Ein bisschen."
„Mach ich fertig", zwinkerte ich, nahm die beiden Gläser entgegen, spülte sie in meinem Wahn einmal mit kaltem Wasser aus und schenkte dann nach.
„Gibst du mir auch eine Cola?", schob Mike hinterher.
„Sicher", antwortete ich, stellte die zwei Whiskeygläser vor Mike und Harvey, drehte mich um, angelte eine eiskalte Flasche Cola aus dem Kühlschrank und griff nach dem Flaschenöffner, der oben auf lag.
„Hei. Kaksi olutta", sagte jemand hinter mir freundlich.
Erschrocken riss ich die Augen auf und hob den Kopf.
Ich kannte diese Stimme.
Viel zu gut.
Und ich war in der Lage, diese Stimme von zwei Millionen anderen auf der Welt zu unterscheiden.
Ich würgte den Flaschenhals der Cola, ließ den Kronkorken auf den Boden fallen und stellte sie Mike so vor die Nase, dass ich auf keinen Fall Augenkontakt zu der Person neben ihm aufnehmen musste.
Ich atmete tief ein und aus.
Auf was hatte ich mich denn eingelassen?
Und wie blauäugig war ich, auch nur zu denken, dass ausgerechnet ER hier niemals auftauchen würde?
So groß Helsinki auch war – so klein waren doch irgendwie das Stadtzentrum und die Bars und Kneipen, die für die Einheimischen einen Mehrwert und somit vielleicht auch eine Tradition hatten.
Die vergangenen Wochen hatte ich erfolgreich verdrängen können, dass es hier auch jemanden gab, den ich um alles in der Welt meiden wollte.
Den ich nicht treffen wollte.
Dem ich – auch nicht zufällig – über den Weg laufen wollte.
Für kein Geld der Welt.
Eher würde ich mir den Kopf rasieren.
Meine Gefühle fuhren Achterbahn und wechselten sekündlich zwischen Wut, Verachtung, Hass und Fassungslosigkeit.
„Komm mal wieder runter", nuschelte ich leise in meinen nicht-vorhandenen Bart.
Aber ich wollte nicht wieder runterkommen.
Und ich konnte auch nicht.
Der Schmerz saß immer noch tief. Und ich war mir auch nicht sicher, ob er jemals ganz verschwinden würde. In den meisten Situationen dachte ich nicht mehr daran; aber es genügte dennoch eine winzige Kleinigkeit, um mich wieder an ihn denken zu lassen.
Um mich an das Uns zu erinnern.
Das Uns, was es schon lange nicht mehr.
Und an das Bild, an das ich mich immer wieder erinnerte: Wie er da vor dem Glastisch hockte und sich selbstverständlich vor mir eine Line zog und es als überhaupt schlimm empfand.
Mich störte die Tatsache, dass der Kerl, der mir hunderte Male das Herz gebrochen hatte und ein abgrundtief schlechter Mensch war, an der Bar saß und wie selbstverständlich zwei Bier bestellte.
Sollte er doch zu Pekka gehen.
Als hätte er mich von hinten nicht erkannt.
Aber all das brachte mich jetzt nicht wirklich weiter und eine Idee, wie ich mich aus dieser unangenehmen Situation retten konnte, hatte ich auch nicht.
„Sorry?", wiederholte die Stimme neben Mike und Harvey etwas lauter.
Was blieb mir anderes übrig als ihn zu bedienen?
Ich pustete hörbar Luft aus und drehte mich dann in Richtung Bar.
Widerwillig.
Und mit einem Pokerface.
Und da saß er.
Samu Haber.
Blond.
Ungefähr 1,90 m groß.
Schwarzes Shirt, Sonnenbrille am Kragen.
Und Augenringe bis zum Bauchnabel.
Vermutlich kokste er sich nach wie vor die Birne zu und sah deshalb unglaublich übernächtigt aus.

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