Obwohl sie mich nicht direkt ansah, wusste ich dennoch, wer sie war

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Osmo klopfte mir fordernd auf die Schulter, als wir das Lady Moon betraten und setzte sofort auf eins der Sofas im Eingangsbereich.
„Wieso muss ich das Zeug immer holen?", fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Weil du älter bist als ich und ich hier sicherlich keinen Alkohol bekomme. Darum", antwortete Osmo wie aus der Pistole geschossen und machte eine abfällige Handbewegung in meine Richtung, „geh, Weib. Ich will Karhu."
„Sonst noch etwas?"
„Nö, danke. Damit bin ich vollkommen zufrieden. Aber ich will ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Keine Plörre aus dem Fass."
Ich schüttelte lachend den Kopf und ging federnden Schrittes zur Bar.
Osmo und ich waren seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen und hatten – so lange es das Wetter zuließ – wie irre Holz für den Winter gehackt, damit sowohl Osmo als auch ich den Kamin befeuern konnten.
Nachdem ich zu Hause geduscht und gegessen hatte, fragte Osmo, ob ich noch Lust auf Bier oder etwas anderes hätte. Ein kühles Bier kam mir sehr gelegen. Ich hatte den ganzen Tag körperlich gearbeitet und befand mich isotonisch auf einem Wert von -1000. Auch, wenn ich während der Therapie gelernt hatte, dass Alkohol durchaus ein Trigger für meine Kokainsucht sein könnte und ich deshalb anfangs auf Rotwein, Bier und andere Spirituosen verzichtet hatte, konnte ich keinen Zusammenhang feststellen. Ich trank sehr kontrolliert und bisher hatte ich noch nie das Bedürfnis gehabt, mir eine Line zuziehen und alles um mich herum zu vergessen.
Ich ging an Pekka vorbei, der gerade einen Kunden bediente und schob mich zu der anderen rothaarigen Bedienung durch, die am Kühlschrank stand.
Lässig ließ ich mich auf einen der freien Barhocker fallen – links von mir saßen zwei Typen in Anzügen und tranken Whiskey.
Ich schmunzelte.
Zum Glück blieb mir ein Anzug erspart. Bei den Temperaturen war ich froh, wenn ich nichts zu tun hatte und zu Hause in Boxershorts auf dem Balkon sitzen konnte.
Selbst das schwarze Shirt, das ich trug, war zu warm. Aber ich wollte meinen untrainierten Oberkörper nicht in ganz Helsinki zur Schau stellen.
Nach der Therapie in der Schweiz hatte ich viel Sport gemacht und mich dabei blöderweise lediglich auf das Joggen und Armtraining gestürzt; denn die Beine sah man im Club schließlich nicht.
Dennoch musste ich irgendwann musste mal wieder etwas für meine Wampe tun.
Aber nicht heute.
Denn erstmal wollte ich Bier.
„Hei. Kaksi Karhu", trällerte ich freundlich.
Ich hatte einen guten Tag; also wieso sollte ich nicht etwas von meiner guten Laune an die Leute verteilen, die bei der Hitze hier noch schuften mussten.
Die Anzugträger neben mir unterhielten sich angeregt auf Deutsch über irgendwas mit Geld und Pro bono-Fällen. Die Unterhaltung war allerdings zu schnell, als dass ich folgen konnten.
Um mich von der Warterei abzulenken, begann ich, gedankenverloren mit den Fingern auf dem Tresen zu tippeln und mich in einer meiner Stammkneipen umzusehen.
So voll wie sonst war es heute gar nicht.
Im Gegenteil.
Das Lady Moon hatte ich schon lange nicht mehr so leer gesehen.
Gut besucht, aber trotzdem irgendwie eher leer als voll.
Alle Barhocker am Tresen waren besetzt, aber nur vereinzelt hatten sich Menschen in die Sitzecken verzogen. Ich hätte auch keinen Bock, mit meiner Hose nach ein paar Minuten an der Ledergarnitur festzukleben, weil ich so schwitzte. Man stand, saß hier oder – wenn man sich bei der Hitze bewegen wollte – spielte man Billard.
Warum gönnte man hier ein Feierabendbier , anstatt raus zum Löyly zu gehen und sich dort das letzte bisschen Wind um die Nase wehen zu lassen?
Und dann schaute ich breit grinsend zu den Anzugträgern, die neben mir saßen und andauernd an ihren Hemdknöpfen oder der Krawatte herum hantierten: Vermutlich, weil sie Touristen waren und sie es nicht besser wussten.
Oder weil sie alt eingesessene Stammgäste waren.
So wie Osmo und ich.
Es vergingen einige Momente, bis ich mich fragte, wie lange die Lady hinter der Bar wohl noch brauchen würde, um mir zwei Flaschen Karhu zu bringen.
So schwer war das schließlich nicht.
Oder?
Hatte ich nicht laut genug gesprochen?
War die Bedienung schon älter – älter als ich – und eventuell schwerhörig?
„Sorry?", wiederholte ich jetzt lauter und erntete einen vielsagenden Blick von den Geldheinis, die neben mir saßen.
Die Bardame zog die Schultern hoch und atmete hörbar aus.
Als würde sie ihren Job und alles, was dazu gehört, abgrundtief hassen.
Sollte sie sich doch einen Bürojob suchen, damit sie nicht mit Menschen in Berührung kam und den ganzen Tag E-Mails für ihren fetten Chef tippen, der sie anschließend noch auf seinem Schreibtisch nageln würde, anstatt hier Getränke zu verkaufen.
Es war ja nicht meine Schuld.
Vielleicht hätte sie auch einfach in der Schule besser aufpassen sollen. Dann wäre ihr all das hier erspart geblieben.
Als sich die Bedienung endlich zu mir umdrehte, war ich vollkommen geschockt.
Obwohl sie mich nicht direkt ansah, wusste ich dennoch, wer sie war.
Ich kannte ihr Gesicht.
Die Form ihrer Nase und ihrer Lippen.
Mir stockte der Atem.
In ihrem Blick spiegelte sich Wut, Fassungslosigkeit, Verachtung und Hass wider.
Und ich wusste ganz genau, warum.
Weil sie mit mir überhaupt nicht gerechnet hatte.
Aber ich auch nicht mit ihr.
„Karhu, ja?", sofort drehte Emma sich wieder um, öffnete den Kühlschrank, holte zwei Flaschen heraus und stellte sie vor mir auf den Tresen, ohne mir auch nur einen Blick zu würdigen.
Wie konnte ich sie anfangs nicht erkennen?
Ihre Haare waren mit einem schwarzen Zopfgummi zu einem hohen Dutt gebunden – aber alles andere hätte mir auffallen müssen, weil ich sie so verdammt lange und gut kannte.
In ihren zahllosen Ohrlöchern steckten viele kleine Stecker. Weiteren Schmuck trug sie nicht. Warum sollte sie auch? Ketten oder gar Armbänder von irgendwelchen Exfreunden würde ich auch nicht tragen. Selbst, wenn ich den Klunker immer noch schön finden würde.
Den Schlittschuhanhänger, den ich ihr damals geschenkt hatte, hatte ihr so gut gestanden und uns irgendwie miteinander verbunden. Jetzt, wo sie ihn nicht mehr trug, war das irgendwie komisch für mich.
Sie trug ihn nicht, weil sie es vergessen hatte, sondern weil sie sich ganz bewusst dagegen entschieden hatte.
„Hei", ich versuchte irgendwie ein Gespräch anzufangen und war fast geneigt, ihren Kopf mit meinen Fingern anzuheben, damit sie mich ansehen musste.
Aber das verkniff ich mir im letzten Moment.
„Zahlst du mit Karte?", wieder suchte Emma keinen Blickkontakt und die Jungs neben mir waren plötzlich erstaunlich ruhig.
Ich verstand, dass sie immer noch sauer auf mich war. Das war auch – nach der langen Zeit – irgendwie nachvollziehbar.
Aber wir waren beide Erwachsen.
Und ich war durchaus in der Lage, ein normales Gespräch mit ihr zu führen.
Das hatte ich die ganze Zeit über gewollt.
Mit ihr reden.
Weil sie mir wichtig war und viel bedeutete.
Aber Emma war alles andere als fähig, mich auch nur anzusehen.
Nicht mal für eine einzige Sekunde.
Die andere Frage war: Was tat sie hier überhaupt?
Warum bediente sie Leute in Helsinki?
In meiner Heimatstadt?
Warum war sie nicht zu Hause?
In Deutschland?
Wortlos und ohne auf meine Antwort zu warten, hielt sie mir den Kartenleser hin.
Den ich mich weigerte, entgegen zu nehmen.
Ich wollte ihr ins Gesicht sehen und eine erwachsene Unterhaltung führen.
So, wie wir es damals immer getan hatten.
Keine fünf Sekunden später nahm Emma das Kartenlesegerät weg, drehte sich wieder um, griff nach einem Trockentuch und wischte über den ohnehin schon sauberen Kühlschrank.
„Emma", ich beugte mich über die Bar, „ich will zahlen mit die Bargeld I think."
Ihre Schultern bewegten sich auf und ab, bevor sie sich wieder umdrehte.
„Acht Euro."
Diese Ignoranz passte nicht zu ihr und stimmte in keinster Weise mit unserem Verhältnis überein.
Sauer und enttäuscht ja.
Arrogant und vollkommen ignorant nein.
Langsam war ich genervt von ihrer Attitude.
„C'mon", ich ließ Luft zwischen meinen Lippen hörbar entweichen.
„Was willst du denn?", Emma hob den Kopf und sah mich mit ihren Rehaugen kühl an, „Acht Euro für zwei Bier. Zahl bar oder mit Karte, ist mir egal."
„Hei", sagte ich erneut, als sich unsere Blicke endlich trafen, „was du machst hier?"
Selten hatte ich einen so wütenden Blick in ihren Augen gesehen. Sie konnte jetzt nicht fliehen; das wäre mehr als unprofessionell gewesen. Stattdessen musste sie mich und meinen Anblick ertragen.
„Arbeiten. Siehst du doch", sie blies sich genervt eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ich zahle doch mit die Karte", entschied ich mich um, um mir ein paar Sekunden mehr Zeit einzuholen, „wie geht es dir?"
Wieder hatte ich so viele Fragen und wollte am liebsten sofort eine Antwort auf alle. Aber gerade als ich sie gefragt hatte, warum sie hier war, biss ich mir auf die Zunge. Ich hatte gesehen, wie schlecht es ihr gegangen war, als sie ihre Wohnung hatte räumen müssen.
„Pekka braucht das Teil", wiederholte Emma deutlich nur und tippte mit ihren dunkel lackierten Fingernägeln fordernd auf den Tresen, „zahlst du jetzt oder nicht?"
Egal, was ich jetzt hätte tun oder sagen wollen: Es wäre nach hinten losgegangen.
Meine Chancen, eine vernünftige Unterhaltung mit ihr zu führen, standen unfassbar schlecht. Emma wollte gerade kein Gespräch. Unter keinen Umständen.
Sie machte ihren Job.
Wenn auch etwas unfreundlich.
Und wieder entschied ich mich kurzerhand um, fischte einen Zehn-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie, legte ihn auf den Tresen und umfasste die Flaschenhälse der Biere.
„Pitäkää loput", meinte ich, bevor ich vom Hocker stieg und darauf wartete, dass Emma mich ansah.
Sie griff nach dem Schein, öffnete die große Geldbörse und schob mir ein Zwei-Euro-Stück als Wechselgeld über den Tresen.
„Pff", Emma schüttelte den Kopf und schnaufte verächtlich, „ich will dein scheiß Geld nicht."
Bevor ich irgendwie darauf reagieren konnte, hatte sie schon nach dem Kartenleser gegriffen und ihn zu Pekka gebracht. Ich nahm das Wechselgeld, drehte es ein paar Mal zwischen meinen Fingern und steckte es dann in meine hintere Hosentasche.

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