19)A black book:

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Ich schlug das schwarze Buch auf und blickte leicht erstaunt auf die eher kleine, feine Handschrift, die sich vor mir erstreckte. Sie kam mir auf eine gewisse Weise vertraut vor, doch gleichzeitig auch so unbekannt.

In den fein säuberlich Druckbuchszaben stand da:

Liebes Mädchen aus der Bahn,
Ich hoffe einfach nur von ganzem Herzen, dir geht es gut. Du sahst nett aus, mit deiner Brille, deiner kleinen Nase und deinen leicht trockenen Lippen, die trotzdem schön sind.

Du bist schön, obwohl du irgendwie einsam aussahst. Ich weiss nicht warum, aber du sahst einsam aus.
Traurig und einsam! Es tat mir leid.
Du bist vermutlich einer der Menschen, die nur Gutes wollen, genau die richtige Portion Humor haben, Situationen in den richtigen Momenten auflockern, sie aber trotzdem nicht ins lächerliche ziehen.

Ich weiss nicht, wozu dieses Geschreibsel hier gut ist, Aber ich wollte es mal los werden.
Ich glaube du bist ein herzensguter Mensch, lass dich nicht unterkriegen! Du wirst gebraucht!

Ich war geschockt, in dem Text lag so viel Wahrheit, so viel Wissen, so viel Hoffnung, obwohl er nur aus Spekulationen bestand.
Wer den Brief wohl verfasst hatte? Kannte ich die Person? Wollte ich sie kennen?

Ich blätterte weiter durch das schwarze Buch, auf jeder Seite war ein Brief. Immer an verschiedene Leute adressiert, an
den Jungen mit den roten Haaren,
das Mädchen im Hoodie,
die alte Frau,
die Mutter...

Bei der Zeile,, lieber alter grantiger Mann" stutzte ich.

Liebe alter, grantiger Mann,
du hast vielleicht den kalten Krieg miterlebt, du hast vielleicht gesehen, wie dein Freund stirbt, du hast vielleicht gesehen, wie ein Haus mit Menschen in Flammen aufging, du kannst dich vielleicht nicht mehr an deinen Bruder erinnern, weil ihr euch nie wirklich kennen gelernt habt, aber eines kannst du, und zwar dein Verhalten ändern!

Das Leben hat es vermutlich nicht gut mit dir gemeint, es war gemein hinterhältig, doch warum sorgst du dann dafür, dass andere Leben auch so werden?

Ich sehe, wie du dich auf deinen Stock stützt, dein Leben von diesem Stock gehalten wird, doch wie gerne würde ich diesen Stock ersetzen?
Durch einen Menschen, einen lebendigen, dich liebenden Menachen durch dieses Stück Metall ersetzen?

Ich glaube du hast viel vom Leben zu berichten, auch viel schönes, also zeig das doch!

Ich habe dich gesehen, mit all dem Grahm in dem Augen, mit all den schlechten Worten im Mund, mit all den schlechten Gedanken im Kopf, die die Überhand haben.

Ich glaube, ich würde dir zuhören, nein. Ich bin mir sicher! Bitte erzähle mir von deinem Leben!

Ich schluckte, wie alt war wohl die Person, die das geschrieben hatte?
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie nie unterschrieben hatte. Wusste sie dass ich das gerade las? Wollte sie es?

Gedankenverloren blätterte ich weiter.
An den müden Lehrer,
an die gestresste Frau,
an das Schicksal,
an den Friedhofsgärtner,
an den Mann, der so oft Blumen gießt.

Moment mal. Das Schicksal? Hatte ich mich verlesen? Schnell blätterte ich einige Seiten zurück und fand es.,, Liebes Schicksal" stand dort in dieser besinderen Schrift, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte.

Liebes Schicksal,
Warum? Warum bist du so unfair? Du trägst den besten Menschen immer die schwersten Aufgaben auf! Warum bist du so oft so schrecklich?

Es erschließt sich mir einfach nicht. Was hast du davon, andere Leiden zu sehen? Warum bist du von Anfang an vorbestimmt? Warum wird schon bevor ich geboren bin festgelegt, wann ich wo, von wem geboren werde, wann ich mich mit wem treffen werde, wann ich was vergessen werde und wann mir was passiert.
Warum gibt es dich überhaupt und warum bist du immer so böse?

Ich mag dich nicht! Normalerweise würde ich sagen, dass ich dich hasse, aber ich hasse niemanden und nichts. Ich verabscheue dich. Ich kann deine Existenz nicht nachvollziehen!

Dieser Brief hatte am wenigsten Ähnlichkeit mit dem bisherigen gehabt. In Gedanken versunken klappte ich das Buch zu, so dass nun nur noch mein Zeigefinger darin steckte, um die Seite wieder zu finden.
Gedankenverloren strich ich über den Einband. Er war schwarz und passte damit perfekt zu dem Buch. Er war schlicht, aber trotzdem voller Wahrheit, er war unscheinbar, hatte aber trotzdem so enorme Wirkung und war einfach unbeschreiblich!

Nachdem ich einige Minuten abwesend ins Leere gestartet hatte, schlug ich das Buch wieder auf und las die nächsten Namen:
Das Stille Mädchen,
den kleinen Jungen,
Den Tod.
Wieder stutzte ich.
Ich las den gesamten Brief. Er war voller Hass und Verzweiflung. Er war voller Sehnsucht, nach Verstorbenen,
er war voller Wahrheit und Eingeständnis. Er war das, was bewirkte, dass mir nun langsam Tränen in die Augen stiegen. Er war der Grund, warum ich mir nun, mit meinen Gedanken überfordert, durch die kurzen Haare fuhr und auf eine gewisse Weise ratloser, doch gleichzeitig klüger denn je war.
Das gesamte Buch und dessen Inhalt war der Grund, warum ich mich so gegensätzlich fühlte.
Um mich nicht mehr mit meinen wirren Gedanken auseinandersetzen zu müssen blätterte ich schnell weiter.
An die schluchzende Frau,
an den zerstreuten und verzweifelten Mann,
an die Liebe.

Wieder stockte ich und beschloss nicht weiter zu blättern.
Ich wollte gerade den Brief lesen, als mir das Buch plötzlich aus den nassen Händen rutschte.
Warum waren meine Hände so verschwitzt? Erst jetzt bemerkte ich die Gänsehaut, die an meinem gesamten Körper war, und zusammen mit meinen nassgeschwitzten Händen deutlich machten, was dieses kleine, unscheinbare, schwarze Notizbuch mit mir machte.

Ich wollte es gerade wieder aufheben um den Brief an die Liebe zu lesen, als mir auffiel, daß die letzte Seite aufgeschlagen war. Die Worte, die am oberen Rand standen, zogen mich an.

Liebes Ich,
Ich, du bist so schrecklich! Kannst nicht mit anderen reden und kapselst dich selbst ab! Schreibst stattdessen Alles in dieses alberne Buch!

Ich, du bist kein guter Mensch! Du bist abschäulich, ekelerregend!
Du sagst immer Allen was sie falsch machen, machst es aber selbst nicht besser!
Du wiedersprichst dir, sagst aber selbst dass du Widersprüche hasst!

Du solltest nicht hier sein! Geh einfach! Geh!

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