9) Arabella

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Bellamy unterdrückte einen Fluch. Da hatte sich jemand ja den perfekten Zeitpunkt ausgesucht, um an seine Tür zu klopfen.
Er riss sie so heftig auf, dass die Person auf der anderen Seite erschrocken einen Schritt zurückwich.

"Jackson", stellte Bellamy mit einem Stirnrunzeln fest. "Was machst du denn hier?"

"Dir auch ein herzliches Hallo", entgegnete der junge Arzt mit einem Lächeln, das allerdings rasch erlosch, da Bellamy ihn ungeduldig und relativ finster anstarrte. "Tut mir leid, wenn ich dich störe, aber wir brauchen deine Hilfe."

Auf dem Weg ins Krankenhaus klärte Jackson seinen Begleiter über die Sachlage auf.
Er und Abby betreuten zurzeit einen Patienten, der - wie er es ausdrückte - "ein wenig exzentrisch" war. Der 21-jährige Lonny war in Sanctum bekannt. Er hatte als Kleinkind unglücklicherweise giftige Pilze gegessen, wovon sein Gehirn bleibende Schäden davongetragen hatte. Seither hatte er gute und schlechte Tage, wobei er an seinen guten Tagen überwiegend geistig verwirrt, aber dennoch umgänglich war. An einem schlechten Tag wie heute, wo er ausserdem hohes Fieber hatte, litt Lonny unter Wahnvorstellungen und Panikattacken. Diese bewirkten, dass er Stimmen hörte und mit Leuten redeten, die gar nicht da waren, unter Verfolgungswahn litt oder anfing, grundlos um sich zu schlagen.

"Es ist gerade sehr schwierig mit ihm", erklärte Jackson, als er Bellamy in Lonnys Krankenzimmer führte. "Er verweigert sämtliche Tabletten und Flüssigkeiten und spuckt alles, was wir ihm geben, immer wieder aus. Deshalb wollen wir ihm das fiebersenkende Mittel über eine Infusion zuführen, doch das lässt er ebenfalls nicht zu. Er hat sich so heftig gewehrt, dass er der armen Eva ein Veilchen verpasst hat! Eva ist eine unserer Krankenschwestern", fügte er auf Bellamys fragende Miene hinzu. "Wir brauchen die zusätzliche Hilfe eines Wächters, um Lonny zu beruhigen oder notfalls zu stabilisieren."

"Alles klar." Bellamy wappnete sich beim Betreten des Raumes darauf, einen gefesselten, allenfalls geknebelten und tobenden Patienten vorzufinden. Doch Lonny, der ein weites Patientenhemd trug und dessen kastanienbraune Haare ein einziges heilloses Durcheinander waren, sass völlig ruhig im Schneidersitz auf dem Bett und beschäftigte sich offenbar hochkonzentriert mit einer ... Socke?

"Lonny, ich bin wieder da. Das ist Bellamy Blake, einer unserer Wächter", erklärte Jackson. "Hast du immer noch so starke Kopfschmerzen oder geht es dir etwas besser?"
Der seltsame Patient antwortete nicht. Stattdessen hob er die blau-weiss gestreifte Socke hoch und hielt sie in den Schein der Deckenlampe, während er so intensiv darauf stierte, als würde er das Kleidungsstück mit seinen Augen röntgen.

"Sie reagiert einfach nicht mehr. Ich verstehe das nicht", murmelte er vor sich hin. "Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Etwas stimmt nicht!" Abrupt löste er den Blick von der Socke und sah stattdessen Bellamy mitten in die Augen. "Ich glaube, sie ist krank. Helfen Sie ihr, Herr Doktor!"

Bellamy war so perplex, dass er einige Sekunden brauchte, bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte. "Ähm, tut mir leid, ich bin kein Arzt. Aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Ich hörte, Sie brauchen dringend eine Infusion."

Das hätte Bellamy besser nicht gesagt, denn die Worte schienen Lonnys Gemüt direkt von 0 auf 100 zu katapultieren. "NEEIN! Keine Medikamente! Keine Nadeln, keine Spritzen, keine Infusion!! Bleibt weg von mir - alle drei!", brüllte er hysterisch und robbte eiligst über das Bett. Er liess sich auf den Boden fallen und verdrückte sich in die naheliegende Ecke, wo er sich zusammenkauerte, die Beine vor die Brust gezogen und seine Arme schützend um die Knie geschlungen. Die Socke hatte er dabei keinen Moment losgelassen.

"Alle drei?" Verwundert schaute sich Bellamy im Zimmer um, konnte jedoch keine weitere Person mehr ausmachen.

Jackson hob resigniert die Schultern. Siehst du, ich hab's dir ja gesagt, war klar und deutlich in seiner Miene abzulesen.
"Könntest du kurz bei ihm bleiben und aufpassen? Ich werde Abby und Eva holen, dann können wir loslegen."

"Klar. Ich versuche derweil, ihn wieder zu beruhigen", antwortete Bellamy.

Jackson nickte und ging hinaus.

Langsam und bemüht, keine hektischen Bewegungen zu machen, umrundete Bellamy das Bett und ging in einigem Abstand zu dem verwirrten Patienten in die Hocke.
Dieser beäugte ihn misstrauisch über seine Knie hinweg.
"Hey Lonny. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Wie geht's dir denn?"
Bellamy schlug einen möglichst lockeren Ton an und tat so, als würde er nicht bemerken, wie Lonny seine Socke über die rechte Hand stülpte und ihr ein Küsschen gab.

"Nicht gut", murrte Lonny. "Arabella auch nicht. Sie ist kaputt." Er hielt gut sichtbar die Sockenhand hoch.

"Arabella? Das, äh ... Das ist ein schöner Name", brachte Bellamy hervor und gleichzeitig dachte er: Oh Mann, was mache ich hier eigentlich!?

Lonny schien zu schmollen. "Ich weiss. Deshalb heisst sie ja so."
Er massierte sich mit der freien Hand die Stirn, was Bellamy darauf schliessen liess, dass er immer noch Kopfschmerzen hatte. Ausserdem waren seine Wangen gerötet und in seinen Augen lag ein unnatürlicher Glanz. Es schien gesundheitlich wirklich nicht allzu gut um ihn zu stehen. Vom geistigen Zustand mal abgesehen.

Bellamy räusperte sich. "Hör mal, Kumpel, du hast ganz schön hohes Fieber. Dagegen sollten wir was tun, sonst wirst du so schnell nicht wieder gesund. Im Gegenteil, dein Zustand könnte noch viel schlimmer werden. Und das würde ... Arabella sicher traurig machen."

"Aber die wollen mich immerzu pieksen! Und weisst du, was noch?" Lonnys Stimme senkte sich zu einem Flüstern, so dass Bellamy sich vorlehnen musste, um ihn verstehen zu können. "Die wollen mich vergiften! Ja, ganz genau! In der Infusion ist Schlangengift drin." Er nickte mit dramatisch geweiteten Augen.

Bellamy schaffte es, das Starren zu erwidern, ohne zu blinzeln. Oder sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu klatschen.
"Wieso denkst du, dass sie dich vergiften wollen? Hast du ihnen denn einen Grund dazu gegeben?", fragte er sachlich, damit sich der Patient ernstgenommen fühlte und nicht wieder anfing, hysterisch zu werden. Bellamy hatte mittlerweile wahrlich genug Erfahrung mit Leuten, deren gesunder Menschenverstand sich zu verabschieden drohte. Wobei bei Lonny diesbezüglich wohl bereits Hopfen und Malz verloren war.

Sein Gegenüber runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken.
"Nein, hab ich nicht!", sagte er dann voller Überzeugung. "Ich weiss auch nicht, warum sie mich loswerden wollen." Plötzlich fuhr er alarmiert auf. "Vielleicht wollen sie Arabella stehlen!" Er klemmte sich vorsichtshalber die Sockenhand unter die Achselhöhle. "Aber nur über meine Leiche! Auch wenn sie kaputt ist, gebe ich sie nicht her!"

Bellamy wusste nicht, ob er lachen oder Mitleid verspüren sollte. Das Ganze war einfach zu schräg.
Er setzte sich auf den Boden und nahm eine bequemere Position ein. Er sah schon; die Überzeugungsarbeit könnte länger dauern.

Eine zweite Chance (Bellarke FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt