16) Unfälle passieren

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Die Woche verging wie im Flug. Bellamy arbeitete jeden Tag, sei es als Wächter oder als Helfer in der Nachbarschaft - in Sanctum gab es immer genug zu tun. Daneben traf er sich gelegentlich mit seiner Schwester Octavia und seinen Freunden zum Plaudern und Abhängen oder er trainierte wie üblich.
Ausserdem hatte er feststellen müssen, dass er einen neuen Bewunderer hatte: Lonny war aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte definitiv einen Narren an ihm gefressen. Bellamy begegnete Lonny manchmal draussen auf seinen Rundgängen und wechselte dann jeweils einige Worte mit ihm, was ihn jedes Mal zu freuen und aufzubauen schien. Offenbar war Bellamy einer der wenigen, die es schafften, den geistig verwirrten Mann zum Plaudern und sogar zum Lächeln zu bringen.

"Hey Kumpel", grüsste er nun, als Lonny an diesem Donnerstagnachmittag im Trainingsareal auftauchte und ihm mit scheuem Interesse beim Bogenschiessen zugucken wollte.
"Klar doch. Setz dich irgendwohin und mach's dir gemütlich."
Bellamy und Octavia lieferten sich gerade einen Wettkampf und liessen sich durch den Neuankömmling nicht stören.

Als sie fertig waren (beide hatten je einen Durchgang für sich entscheiden können und beliessen es bei einem Unentschieden), lächelte Octavia Lonny freundlich an.
"Wie geht's dir, Lonny?", fragte sie, doch dieser senkte sofort den Kopf und starrte auf seine Füsse, während er sich am Arm kratzte.
Octavia warf Bellamy einen verunsicherten Blick zu und hob die Schultern.

"Wo ist Arabella? Wollte sie nicht mitkommen?", versuchte es stattdessen ihr Bruder - und siehe da, ein schiefes Lächeln breitete sich auf Lonnys Gesicht aus.

"Sie wollte zuhause bleiben. S-sie mag es nicht, beim Bogenschiessen zuzusehen", erklärte Lonny und fügte hastig hinzu: "Ich aber schon! Ich mag Bogenschiessen."

Bellamy wog kurz ab, ob er seinen Einfall verantworten konnte, der ihm eben durch den Kopf gegangen war, und streckte schliesslich Lonny seinen Bogen hin. "Möchtest du es versuchen?"
Das glückliche Strahlen, das sich auf Lonnys Gesicht ausbreitete, machte locker einem Scheinwerfer Konkurrenz.

Also versuchten sie es gemeinsam. Bellamy gab Anweisungen und zeigte seinem neuen Schüler, wie er den Bogen halten und den Pfeil platzieren musste. Das Ganze gestaltete sich allerdings ein wenig schwierig, da Lonny es nicht mochte, von anderen Menschen angefasst zu werden, nicht einmal von seinem neuen Idol.

"Ja, das machst du schon ganz ordentlich. Nur den Ellbogen musst du noch ein wenig mehr anheben. Genau so. Und nun zieh den Arm soweit zurück, bis sich deine Hand auf Höhe deines Mundwinkels befindet. Komm schon, das schaffst du! Sehr gut - und jetzt lass die Sehne los."

Es brauchte mehrere Versuche, bis es einigermassen klappte, doch Lonny war mit Feuereifer bei der Sache.
Octavia setzte sich auf eine Holzkiste und überwachte das Spezial-Training, nicht ohne dass ihr Gesichtsausdruck stetig zwischen skeptisch, besorgt und amüsiert hin und her wechselte.

Eine Weile lief es ganz gut, doch dann kam es wie es kommen musste: Bei einem weiteren Versuch schnellte die Bogensehne so unglücklich zurück, dass sie Lonnys Arm erwischte - und jeder, der das Gefühl kannte, wusste; es  war wie ein Peitschenhieb.
Lonny kreischte auf, liess den Bogen fallen und umklammerte seinen Arm. Und das Drama nahm seinen Lauf.

"Dieses Scheusal hat mich angegriffen! Es will mich töten! Hilfe!", brüllte er panisch. Ungestüm bewegte er sich rückwärts, stolperte dabei auch noch über seine eigenen Füsse, sodass er prompt der Länge nach hinschlug und folglich noch lauter brüllte.

Octavia wandte sich ihrem Bruder zu, spreizte dabei ihre Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen nach oben, was zusammen mit ihrer vorwurfsvollen Miene so viel ausdrücken sollte wie "Und was jetzt, du Genie?!"

Bellamy legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief.
Das war ja wunderbar gelaufen. Er hatte Lonny eine Freude machen, ihm ein spezielles Erlebnis ermöglichen wollen, stattdessen war der arme Kerl jetzt verletzt und total ausser sich. Es half nichts; er musste ins Krankenhaus gebracht werden - schon wieder.
Grossartig. Einfach grossartig.

Und es wurde nicht besser.
Der Arzt, der bald darauf zu ihm und Lonny ins Behandlungszimmer eilte, war ausgerechnet Cillian. Der Typ, der am Erntedankfest mit Clarke getanzt hatte. Der verdammte Kletten-Doktor, der seine verdammten Hände nicht hatte bei sich behalten können.
Fast hätte Bellamy bei seinem Auftauchen böse geknurrt, doch mit eiserner Willenskraft schaffte er es, Cillian zur Begrüssung stattdessen zuzunicken und ihm anschliessend in neutralem Tonfall das Malheur zu erklären.

Der Arzt hörte still zu, ohne Bellamy auch nur einmal zu unterbrechen. Erst als dieser geendet hatte, stellte er ihm zwei, drei sachliche Fragen, bevor er mit Lonnys Behandlung loslegte.
Cillian wirkte sehr professionell bei dem, was er tat und hatte zu Bellamys Überraschung ebenfalls einen guten Draht zu Lonny. Der aufgewühlte Patient liess dem Arzt jedenfalls mehr oder weniger freie Hand - Cillian durfte ihn sogar kurzzeitig anfassen, um eine schmerzstillende und kühlende Salbe aufzutragen und Lonnys Arm zu verbinden.

"Er wollte mich umbringen", beklagte sich Lonny und wirkte aufrichtig beleidigt.
"Wer wollte dich umbringen? Etwa Wächter Blake?", wollte Cillian wissen, wobei er nach Bellamys Geschmack die letzten zwei Wörter ein bisschen zu fest in die Länge zog. Der Ton grenzte an abfällig.

"Nein!" Jetzt schien Lonny empört. "Natürlich nicht Bellamy! Bellamy ist immer gut zu mir. Der Bogen wollte mich umbringen!"

Bellamy musste zugeben; es verschaffte ihm ein gewisses Mass an Genugtuung, dass Lonny ihn ohne zu zögern vor dem Arzt verteidigte - auch wenn er genau genommen die Ursache dafür war, dass Lonny sich überhaupt auf diese Weise verletzt hatte. Er hätte ihm das blöde Ding nie in die Hand drücken sollen. Aber hinterher war man immer klüger. Und Unfälle passieren nun mal.

Der aufgebrachte Patient konnte schliesslich einigermassen beruhigt und aus dem Krankenhaus entlassen werden. Zum Abschied raunte Lonny Bellamy zu, er solle sich vor wilden Bögen in Acht nehmen und die Dinger besser nicht mehr anfassen. Bellamy versprach ihm, vorsichtig zu sein. Erst danach ging Lonny beschwichtigt seines Weges.

Mit verschränkten Armen stand der Arzt da und sah seinem speziellen Patienten mit gefurchter Stirn hinterher, ehe er sich an Bellamy wandte.
"Das hätte auch weniger glimpflich ausgehen können", sagte er ruhig, doch der darin enthaltene Vorwurf war nicht zu überhören. "Wie um alles in der Welt kommen Sie auf die Idee, jemanden wie Lonny das Bogenschiessen üben zu lassen?"

Die Frage verärgerte Bellamy.
"Weil auch jemand wie Lonny etwas Spass verdient hat", erwiderte er bestimmt. "Er hat sich dafür interessiert, also habe ich ihm gezeigt, wie's geht. Man sollte ihm nicht alles vorenthalten, nur weil er ein bisschen ... anders ist. Vielmehr braucht er Unterstützung und sollte gefördert werden bei dem, was er mag. Er hat schliesslich dieselben Rechte wie jeder von uns. Finden Sie nicht?" Nun war er es, der den Arzt mit einem abschätzigen Blick bedachte.

"Nun ja, zumindest verstehe ich jetzt, warum manche Leute sagen, Sie hätten in ihrer Vergangenheit einige fragwürdige Entscheidungen getroffen. Sie denken offensichtlich nicht an die Konsequenzen, die Ihr Handeln mit sich ziehen könnte. Und Sie sehen ja selbst, wohin das den armen Lonny heute geführt hat." Cillian gab ein Schnauben von sich. "Ich hatte Ihretwegen von Anfang an ein schlechtes Gefühl, Mister Blake. Meiner Meinung nach sind Sie für den Wächterposten zu unberechenbar und wohl auch ... nun ja, ungeeignet. Und seien Sie versichert, ich werde die Ratsmitglieder über den heutigen Vorfall in Kenntnis setzen." Sein Mund verzog sich geringschätzig. "Clarke wird darüber nicht allzu erfreut sein, aber das wird ihr hoffentlich die Augen öffnen. Sie ist eine ganz besondere Frau und hat nur das Beste verdient. Ich mag sie sehr und würde es ungern sehen, wenn sie verletzt wird."

Und ich würde es ungern sehen, wenn du dir dein gutaussehendes Gesicht ruinierst, indem du aus Versehen in meine Faust hineinläufst.
Was dachte sich dieser Angeber von Arzt eigentlich?!
Bellamy musste sich arg im Zaum halten, damit er Cillian 1. nicht erwürgte und 2. ihm nicht irgendeine patzige, dumme Antwort um die Ohren pfefferte, denn beides würde er hinterher ganz sicher auf die ein oder andere Art bereuen.
Pha, von wegen er dachte nicht über die Konsequenzen seines Handelns nach! Der eingebildete Wichtigtuer hatte ja keine Ahnung.

Er sah Cillian direkt in die Augen, während er einen Schritt näher an ihn herantrat. Befriedigt registrierte er, dass dessen Schultern sich anspannten.
"Ich verrate dir jetzt mal was, Doc", sagte Bellamy mit gefährlich leiser Stimme (zudem pfiff er auf die Höflichkeitsform). "Ja, Clarke ist etwas Besonderes und sie verdient nur das Beste - da stimme ich dir voll und ganz zu. Aber wenn du sie richtig kennen würdest, wenn du wüsstest, wozu sie in ihrem Leben schon gezwungen war, was sie tun und mit ansehen musste, dann würdest du hier nicht so grosse Töne spucken. Wenn du damals in ihrer oder meiner Lage gesteckt hättest, ich wette, du hättest auf der Erde nur halb so lange durchgehalten. Es steht dir verflucht nochmal nicht zu, über mich oder Clarke zu urteilen und ganz bestimmt weisst du nicht im Entferntesten, was das Beste für sie ist! Also lass sie gefälligst in Ruhe."

Die beiden Männer wechselten einen letzten angriffslustigen Blick, bevor Bellamy zurücktrat.
Er hatte erst vier Schritte Richtung Ausgang zurückgelegt, als Cillians Stimme erneut durch den Flur hallte.

"Aber Sie wissen es? Was das Beste ist für Clarke?"

Wieder so ein höhnischer Kommentar. Der Typ ging Bellamy allmählich so richtig auf den Senkel.
Er war stehengeblieben und drehte sich zu Cillian um.

"Ich habe im Leben vielleicht einige fragwürdige Entscheidungen getroffen - aber das hat Clarke auch. Und genau das macht uns zum perfekten Team. Wir kennen einander auf die beste und auf die schlimmste Art. Trotz unserer Fehler, trotz aller Katastrophen, die wir durchstehen müssen; wir  finden immer wieder einen Weg zueinander. Wir sind gut füreinander, denn wir ergänzen uns gegenseitig und machen einander zu besseren Menschen. Also ja - ich würde behaupten, ich weiss ziemlich genau, was Clarke braucht und was sie nicht braucht." Er setzte sein arrogantestes Grinsen auf. "Rate mal, in welche Kategorie du gehörst." Bereits im Weitergehen rief er über die Schulter zurück: "Ach und melde von mir aus dem Rat, was immer du willst. Wir leben hier schliesslich in einem freien Land."

Eine zweite Chance (Bellarke FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt