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Sagen wir mal, dass ich noch nie gut darin war, meine Koffer zu packen. Auch nach 25 Jahren nicht. Wie sonst auch immer schmiss ich all das, was ich auf die Schnelle finden konnte komplett durcheinander in meinen Koffer und behielt nur noch das Zeug draußen, das ich tatsächlich noch für den morgigen Tag, den ich hier verbringen musste, brauchen würde. 
Ich weiß, was ihr denkt: Wie konnte sie keinen Bock mehr auf London haben und warum wollte sie unbedingt wieder nach New York zurück, wo sie doch niemanden hatte außer sich selbst?
Richtig, das war der Punkt. Ich hatte nur mich selbst und das war gut so. Keine Familie, der man bei der Beerdigung einer Großtante, die man eh nicht wirklich kannte, vorgaukeln musste jemand zu sein, der man sowieso nicht war. In New York schuldete ich niemandem eine Erklärung dafür, wie ich mich kleidete, mich benahm oder wen ich nach einem Abend im Club mit zu mir nach Hause brachte. Da konnte ich einfach sein, wer ich wirklich war, ohne mir Gedanken über irgendeine andere Meinung zu machen. Ich meine, das machte ich schon jetzt nicht, aber ihr wisst, was ich damit sagen will. 
Es war noch nie einfach, wenn sich deine gesamte Familie für dich schämte, weil du auf Frauen stehst, aber ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt. Diesmal hatte ich mich allerdings nicht drücken können, da sonst meine steifen, homophoben Eltern vor der Tür gestanden hätten, um mich dann ins Flugzeug zu schleifen. Diesen Triumph wollte ich ihnen nicht gönnen, weshalb ich selbst in dieses beschissene Flugzeug gestiegen und hergekommen war. 
Ich hatte diese Beerdigung zum Glück seit heute Nachmittag hinter mir. Als ich dann noch den Leichenschmaus hinter mich gebracht hatte, konnte ich endlich verschwinden und diese oberflächlichen Idioten hinter mir lassen. Es war für meinen Geschmack sogar recht gut gelaufen, schließlich hatte ich mich benommen, doch mir war klar, dass mein Auftreten in einem schwarzen Anzug statt in einem schwarzen Kleid für einen Skandal gesorgt hatte, auch wenn es keiner von diesen Dummköpfen aussprach. Den einzigen Kommentar bekam ich bezüglich meiner Tattoos. 
"Nicht einmal abdecken kann sie dieses Scheusal von Kunst! Diana, Craig! Was habt ihr da bloß für eine Enttäuschung großgezogen? Eine Lesbe, Tattoos und dann noch diese kurzen Haare! Einfach nur beschämend!"
Ja, meine Großmutter war noch nie ein großer Fan von mir, zumindest seit ich ins Teenageralter gekommen war. Das waren sie alle nie. Meine Eltern hatten damals nicht einmal so tun können, als würden sie sich für mich freuen, als ich meine erste Freundin mit nach Hause brachte. Mal ehrlich, es lief gar nicht gut. Danach habe ich meine jetzige Ex nie wieder mit zu mir genommen.

Ich seufzte und fuhr mit der Hand über mein Gesicht. Jetzt war nicht die Zeit, um Trübsal zu blasen, ich hatte schließlich noch Kram in meinen Koffer zu packen, ähm entschuldigt, zu schmeißen. 
Also ging ich an meinen Kleiderschrank und öffnete die Türen, um meine Klamotten erst einmal achtlos in einem riesigen Haufen auf mein Bett zu befördern. Darunter waren mein Anzug und einige Shirts, die mir eigentlich viel zu groß waren, aber ich liebte oversize. Es war bequem und ich konnte mich darin perfekt bewegen, wenn ich auf der Bühne eine Show gab, schließlich musste ich ja auch irgendwie mein Geld verdienen. Falls es euch interessiert, ich arbeitete als DJ. Man konnte mich für verschiedene Clubs und Veranstaltungen buchen und ohne jetzt angeben zu wollen, ich hatte damit riesigen Erfolg. Es erfüllte mich, wenn ich an meinem Pult stehen konnte und der Menge dabei zusah, wie sie sich zu meiner Musik bewegte. Ich mochte es, wenn meine Stimme durch den Club hallte, sobald ich durchs Mikrofon sprach. Ich fühlte mich immer wie unter Strom, wenn ich zur Musik tanzte und all meine Sorgen vergessen konnte. Wenn ich Glück hatte, nahm ich manchmal sogar eine junge Frau mit zu mir. Versteht mich nicht falsch. Ich fickte sie nicht, nicht alle zumindest. Meistens nahm ich sie mit in mein Apartment, damit sie bei mir ihren Rausch ausschlafen konnten. Außerdem, mal ganz unter uns, die Bezahlung war unglaublich gut, davon konnte man problemlos gut allein leben.
Ich nahm mir gerade meine Hosen vor, als es an meiner Tür klopfte. Leicht genervt machte ich mich auf den Weg in den Flur. Wenn es jemand von meiner Familie war, könnte ich nicht mehr garantieren, an einem Mord unschuldig zu sein. Vor meiner geöffneten Tür stand der junge Portier aus der Lobby. 
"Ach, du bist es Harry. Was gibt's?"
Er stand da, anscheinend ein wenig nervös. Der junge Lockenkopf war von Anfang an nett zu mir gewesen, auch wenn ich in der vergangen Woche ziemlich oft schlechte Laune gehabt hatte. 
Kommt, jetzt tut mal nicht so überrascht. Auch wenn ich so schnell wie möglich nach Hause wollte, so habe ich London in gewisser Weise ein bisschen genossen, bis ich mich dort mit meiner Familie treffen musste. Schließlich kannte mich hier niemand und selbst wenn, man hätte mich aus meiner Jungendzeit, in der ich hier aufgewachsen war, sicherlich nicht wiedererkannt. War auch besser so. Noch mehr komische Blicke und dieses abnorme Tuscheln konnte mir echt erspart bleiben.
"Ich sollte dich vom Chef fragen, ob du morgen Abend tatsächlich schon fliegen willst. Du bist einer unserer besten Kundinnen."
Da hatte Harry wirklich nicht Unrecht. Ich hatte mich absichtlich für ein sehr kleines Hotel entschieden, da ich hier eher meine Ruhe haben konnte und nicht ständig von irgendwelchem Personal gestört werden würde.
"Sorry, aber du weißt besser als jeder andere, dass ich wieder zurück muss."
"Ich weiß, Ruby, aber-"
"Kein Aber. Du kannst deinem Chef ausrichten, dass ich hier unfassbar zufrieden war, aber ich werde keinen Tag länger bleiben. Ich will nach Hause, weg aus dieser Stadt, wo immer alles und jeder verstellt ist. Weg von diesen Menschen, die mich anders wollen, als ich tatsächlich bin. Nimm es mir nicht übel, aber ich will wieder nach New York zurück. Außerdem habe ich in ein paar Tagen wieder einen Job in Manhattan, die zahlen echt keinen schlechten Stundenpreis. Ich will diese Leute hier loswerden, die so tun, als seien sie etwas Besseres, nur weil sie den Normen der Gesellschaft entsprechen."
Harry lehnte sich gegen den Türrahmen und schien nun deutlich selbstsicherer zu sein, als noch ein paar Minuten zuvor. 
"Du weißt, dass nicht alle Menschen so sind, oder? Ich bin nicht so und du bist es auch nicht. London besteht nicht nur aus solchen Leuten und wenn wir schon mal dabei sind, auch in New York wird es genügend Idioten geben, die so tun, als hätten sie ein perfektes Leben. Deshalb gebe nicht der Stadt der Schuld, dass du dich hier nicht wohlfühlst. Es ist nicht die Stadt selbst, es sind die Menschen, das ist ein Unterschied."
Ich seufzte.
"Ich habe jetzt wirklich keine Lust, mich weiter mit dir darüber zu unterhalten, Harry. Richte deinem Chef bitte einfach aus, was ich gesagt habe, okay? Danke. Dir noch einen schönen Abend, wir sehen uns vielleicht nochmal."
Mit diesen Worten schob ich ihn aus meinem kleinen Zimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. 
Mir war klar, dass er es nur gut meinte, aber er konnte ja nicht wissen, dass er damit einen Nerv getroffen hatte. Natürlich mochten auch die Menschen, vorangehend meine Familie, daran Schuld sein, dass ich aus dieser Stadt weg musste, doch es waren vor allem die mir allzu gut bekannten Orte, die mir einen weiteren Aufenthalt hier unmöglich machten. Es waren diese verdammten Erinnerrungen an die wenige glückliche Zeit, die ich hier verbracht hatte. 
Es sollte mein letzter Tag hier in London sein. 
Der letzte Tag, bevor ich zurück nach Hause kam. 
Ein ganzer Tag, der mich noch von New York trennte.
24 Stunden.
24 Stunden, die mein gesamtes Leben noch einmal auf den Kopf stellen würden. 
Ich fuhr mir durch die kurzen Haare und schmiss dann den Haufen, so wie er auf dem Bett lag, in meinen Koffer. Danach schnappte ich mir mein Cap, meine Lederjacke und meine Zigaretten, bevor ich das kleine Hotel verließ und mich in die schon bereits dämmernden Straßen dieser beschissenen Stadt begab.

 Danach schnappte ich mir mein Cap, meine Lederjacke und meine Zigaretten, bevor ich das kleine Hotel verließ und mich in die schon bereits dämmernden Straßen dieser beschissenen Stadt begab

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