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Das kleine Café von Miss Dange kannte kaum jemand. Es lag in einer der kleinen Seitenstraßen und ich hatte nach all den Jahren noch immer den Eindruck, dass dieses Schmuckstück eher zu den Geheimtipps der Stadt gehörte. Auf der einen Seite tat es mir leid, dass es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdiente, doch auf der anderen Seite war es dadurch auch nie wirklich voll, sodass man mit Leichtigkeit einen Tisch bekommen konnte.
Kate und ich waren früher oft bei der alten Miss Dange gewesen und hatten dort wirklich eine tolle Zeit verbracht. Doch seit der Sache hatte ich sie nicht mehr oft besucht, ein paar Monate später war ich nach New York City gezogen.
Grace schwankte noch immer ein kleines bisschen, sah aber mittlerweile nicht mehr so aus, als würde sie sich jeden Moment übergeben und ich denke, dass das für uns beide von Vorteil gewesen war.
"Wo bringst du mich eigentlich hin?", wollte sie wissen und schob sich eine ihrer roten Haarsträhnen hinters Ohr.
Ich lächelte leicht.
"Ich bringe dich zu einer alten Freundin. Sie besitzt ein kleines Café, gleich in der Nähe von hier."
Sie blickte auf die Uhr ihres Smartphones. 
"Ruby, es ist Mitternacht. Ich denke nicht, dass sie noch auf hat."
Mein Lächeln wurde nur größer.
"Vertrau mir, sie ist noch da."
Ich ignorierte erneut, dass sich ihre Hand so gut in meiner anfühlte und zog sie weiter um die letzte Ecke.
"Das ist ja Wahnsinn, da brennt tatsächlich noch Licht!"
Ich schüttelte belustigt den Kopf.
"Das habe ich dir doch gesagt, vertraue mir bitte ein einziges Mal."
Ich ließ ihre Hand los und öffnete die Tür, wobei das für mich gewohnte Klingeln des kleinen Glöckchens am oberen Rahmen des Eingangs ertönte, um anzukündigen, dass es neue Gäste zu bewirten gab.
"Ruby, hier ist doch gar keiner mehr", merkte Grace an und ich schüttelte erneut mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen den Kopf.
"Sei still und folge mir einfach. Ich hätte dich nicht hierher gebracht, wenn ich gewusst hätte, dass man dir nicht helfen könnte."
Ich führte sie zu dem nächstgelegenen Platz, wobei ich den Tisch am Fenster gekonnt ignorierte. Ich konnte es nicht gebrauchen, dass die Wunden, die ich innerhalb der letzten Jahre mühsam geflickt hatte, jetzt wieder aufrissen. Dafür war der Moment einfach nicht der Richtige. Nicht, wenn eine noch immer leicht betrunkene Grace mir gegenüber saß. 
Noch ehe ich weiter meinen Gedanken hinterher hängen konnte, wurde ich durch das Geräusch von wuseligen Schritten unterbrochen. 
"Ruby! Ich traue meinen Augen ja kaum, wie schön, dass du hier bist!"
Noch bevor ich mich vollkommen von meinem Platz erhoben hatte, zog sie mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich. 
"Wie ist New York? Ich habe deine Eltern letztens kurz getroffen, aber sie haben mir natürlich nichts erzählt. Ich meine, ich weiß ja, dass du auf Partys arbeitest, doch sie erzählen nicht mehr als ich bereits weiß."
Ich befreite mich sanft aus ihrem Griff und lächelte.
"Machen Sie sich nichts draus, Sie wissen doch, wie meine Eltern sind. Außerdem können sie Ihnen gar nichts Großartiges erzählen, weil sie nämlich auch nichts wissen, ich rede kaum mit ihnen. War auch eine sehr gute Entscheidung. Aber um ehrlich zu sein, bin ich aus einem bestimmten Grund hier", sagte ich und blickte zu Grace hinüber, die die ganze Zeit über still geblieben war und unserem Gespräch gelauscht hatte.
"Oh Liebes, du siehst aus, als hättest du dir ein wenig zu viel gegönnt! Warte einen Moment, ich bringe dir einen Pfefferminztee, das hilft deinem Magen!"
Und schon wuselte Miss Dange wieder in Richtung der kleinen Küche. Ich lächelte ihr nach und seufzte.
Warum war ich so lange nicht mehr hier gewesen?
"Sie bedeutet dir eine Menge, oder?"
Wieder fiel mein Blick auf die rothaarige Schönheit, die im Vergleich des bisherigen Abends sehr entspannt, wenn nicht schon erschöpft aussah. 
"Ist das so offensichtlich?"
Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
"Ist es, Ruby, glaub mir das ruhig. Du hast sie mit so viel Reue in den Augen angesehen, nachdem sie dich losließ, sodass ich einfach darauf geschlossen habe, dass du eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihr hast, aber sie aus irgendeinem Grund lange nicht mehr hier besucht hast. Du bereust es und machst dir Vorwürfe, auch wenn es nicht bewusst passiert."
Ich starrte sie an, ich konnte einfach nicht anders. 
"Nehmen wir mal an, es würde stimmen, woher weißt du das alles? Du bist doch vollkommen dicht."
Jetzt lachte sie und auch das trieb mir ein Lächeln ins Gesicht. 
"Ich kann einfach gut beobachten, das ist alles. Und außerdem bin ich nicht mehr vollkommen dicht... Ich habe sprichwörtlich den Großteil an Alkohol rausgekotzt. Ich bin jetzt nur noch ein bisschen müde, aber das ist nicht weiter schlimm, ist nicht das erste Mal. Immerhin habe ich schon Nächte durchgemacht, um meine Hausarbeiten pünktlich abgeben zu können. Also komme ich mit ein bisschen Müdigkeit problemlos zurecht."
Ich hob die Augenbrauen. 
"Okay, das ist mir neu. Wenn ich in solch eine Situation mit betrunkenen Menschen verwickelt bin, wollen sie nach dem ersten Kotzen sofort schlafen, da bist du eine echte Ausnahme. Naja, eigentlich nicht die erste Ausnahme."
"Was meinst du? Von wem redest du?"
Verflucht! Passt man einmal nicht auf, wenn man redet!
Grace sah mich weiterhin neugierig an und ich biss mir auf die Unterlippe. Doch was nutzte es mir, wenn ich nach irgendeiner Ausrede suchen würde? Früher oder später würde ich mich in der für mich entspannten Atmosphäre, in der ich mich dank Grace befand, sowieso wieder verplappern. Also atmete ich einen Moment mit geschlossenen Augen tief durch, bevor ich sie ansah.
"Ich rede von Kate... Sie ist meine Exfreundin. Sie wollte nie sofort schlafen, wenn sie zu viel getrunken hatte und danach kotzte. Nebenbei bemerkt ist das eher selten passiert, dass sie überhaupt getrunken hat, aber auch sie hat es manchmal übertrieben. Deswegen bist du nicht die einzige Ausnahme, die mir begegnet ist."
Nach diesem kleinen Schwall an für mich recht unnötigen Informationen über einen vergangenen Teil meines Lebens, schien Grace recht schnell wahrzunehmen, dass ich nicht darüber reden wollte, weshalb sie auch nichts weiter dazu sagte. Zumindest erstmal.
Während ich damit beschäftigt war, die Wunden, die erneut aufzureißen drohten, mit Mühe versuchte geschlossen zu halten, kam Miss Dange mit zwei Gläsern Wasser und einer Tasse heißem Tee wieder zurück. 
"Hier ihr zwei, Wasser wird euch beiden auf keinen Fall schaden. Ich habe dir noch einen warmen Tee mitgebracht, Liebes, dann fühlst du dich sicherlich bald besser", sagte sie und stellte Grace das dampfende Getränk vor die Nase.
"Ich danke Ihnen. Auch dafür, dass Sie uns nach Mitternacht bedienen."
Sie winkte mit einem strahlenden Lächeln ab. 
"Liebes, mach dir keine Gedanken. Kurz bevor ihr gekommen seid, habe ich noch einige Dinge vom Karaoke-Abend weggeräumt, von daher war ich sowieso noch beschäftigt gewesen. Außerdem habt ihr Glück, dass die Paparazzi wieder abgehauen sind und sie dich, Ruby, nicht gesehen haben, sonst wären sie vermutlich über die hergefallen und hätten dich in der Luft zerrissen. Immerhin bist du ihnen seit dem Bekanntwerden des Vorfalls durch die Lappen gegangen. Wobei ich nicht sagen will, dass es sich bei der Sache nur um einen Vorfall handelt, ich-"
"Ist schon gut, ich weiß, was Sie mir sagen wollen. Keine Sorge", unterbrach ich Miss Dange und lächle dabei sanft. Die Gute machte sich immer so viele Gedanken, vor allem wenn es um dieses eine Thema ging.
Grace sah mich nun wieder mit diesem neugierigen Ausdruck in den Augen an, doch ich ignorierte es gekonnt und nahm einen Schluck von meinem Wasser. 
"Ich lasse euch beide jetzt erst nochmal allein, sagt mir Bescheid, wenn ihr noch was braucht. Ich bin hinten und kümmere mich um die Abrechnungen."
Dann drehte sie sich um und ließ uns am Tisch zurück.

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