14:00

140 19 4
                                    

Ich schloss die Tür des Badezimmers ab und lehnte mich dagegen. 
Okay Langenheim, du bekommst jetzt keine Panik. Ja, du magst sie irgendwie, aber das ist kein Grund, um durchzudrehen. 
Mein Blick wanderte im Raum umher und nahm ihn unter die Lupe, um irgendwas zu finden, mit dem ich mich ablenken konnte. Er war für seine Größe doch recht vollgestopft und ich fragte mich, wem das ganze Make-Up gehörte, Grace trug zumindest gestern und heute nicht viel davon. 
Du hättest sie beinah zweimal geküsst und gib es doch zu, du willst es immer noch tun!
Ich fuhr mir durch die Haare, konnte meine Gedanken allerdings nicht davon abhalten die letzten Stunden mit ihr Revue passieren zu lassen. Stunden, die so viele unterschiedliche Facetten gehabt hatten. Stunden, die mich haben gut fühlen und gleichzeitig die Hölle durchmachen haben lassen. Eine Hölle, vor der ich mich eine sehr lange habe verstecken wollen. Zu lange, wenn ich ehrlich war. Ich dachte beim Verlassen meines kleinen Hotelzimmers nicht ansatzweise daran, einige Stunden später im Bad einer Person zu stehen, die mich dazu gebracht hatte, mich zu öffnen und verdammt nochmal, es überforderte mich extrem. Meine eigenen Gefühle überforderten mich so sehr, dass meine Beine nachgaben und ich mich an der Tür heruntergleiten ließ. 
Meine Gedanken waren noch immer bei der Frau, die sich einige Stunden zuvor so sehr zugeschüttet hatte, dass sie in einen Mülleimer kotzte. Bei der Frau, deren rote Haare im Wind geflattert hatten, als wir mitten in der Nacht am Fluss entlang gerannt waren. Meine Gedanken waren bei dem konzentrierten Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie den Song auf der Gitarre spielte. Bei den grünen Augen, bei denen ich mir vorkam, als würde ich einen wunderschönen Wald blicken. Meine Gedanken waren noch immer bei der Frau, deren Lachen durch das gesamte Café gehallt war. Bei der Frau, die mir ganz genau zuhörte und mir die Zeit gab, die ich brauchte, um die richtigen Worte für das zu finden, was ich sagen wollte. Sie waren bei der Frau, die mir erlaubt hatte, in einen kleinen Teil ihres Lebens zu blicken. 
Ich hatte innerhalb der letzten Stunden so vieles erlebt, das ich nicht so schnell vergessen würde. Ich hatte zu meinem Bedauern auch meine Familie wiedersehen müssen, obwohl der eigentliche Grund für meine Anreise überhaupt nicht die Beerdigung meiner Großtante gewesen war. Sofort sah ich wieder den Hinterhof vor meinem geistigen Auge, an dem wir vorhin vorbei gekommen waren. Natürlich hatte Grace sofort bemerkt, dass ich angespannt war, doch sie sah nicht das, was ich gesehen hatte. Sie hatte nicht die zwei Menschen gesehen, die kurz zuvor noch Geld gegen Drogen getauscht hatten, bevor wir an ihnen vorbeikamen. 
Ich schüttelte heftig mit dem Kopf und versuchte mich wieder auf die guten Stunden zu konzentrieren, die ich mit Grace verbracht hatte, um in der Gegenwart bleiben zu können, doch sie wanderten zu jenem Tag vor gut sechs Wochen zurück.

Mein Handy klingelte mich buchstäblich aus dem Schlaf. Ich tastete danach, öffnete die Augen und wurde vom hellen Sonnenlicht geblendet, das in mein Schlafzimmer strömte. Ich schaute aufs Display. Die Nummer war von mir nicht eingespeichert worden, doch trotzdem ging ich ran.
"Langenheim?"
Meine Stimme klang noch ein wenig kratzig so wie immer, wenn ich gerade erst aufgewacht war. Ich fuhr mir mit der Hand kurz über das Gesicht, in der Hoffnung, dass ich so ein wenig wacher werden würde. 
"Spreche ich hier mit Ruby Rose? Hier ist Emily Johnson von der OAD Clinic aus London."
Schlagartig saß ich im Bett. 
"Ja, ich bin Ruby. Hallo, Miss Johnson. Was kann ich für Sie tun?"
Ich krallte mich in meine Decke. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu der Klinik, seit...
Ich schüttelte mit dem Kopf, um mich wieder auf den Anruf zu konzentrieren. 
"Doktor Green möchte mit Ihnen sprechen, aber sie sagte, ich solle Sie erst einmal fragen, ob Sie überhaupt bereit wären mit ihr zu sprechen. Deshalb ruft sie auch nicht direkt an, sie möchte Sie nicht verschrecken."
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Wieso sollte Doktor Green mich anrufen? Das machte keinen Sinn.
"Miss Langenheim? Sind Sie noch dran?"
Ich blinzelte.
"Ja natürlich, ich bin noch dran. Sie ... Sie können mich zu ihr durchstellen. Vielen Dank."
"Das mache ich gern. Bitte passen Sie auf sich auf."
Dann brach die Verbindung ab und es war die Musik einer Warteschleife zu hören, die sich ewig hinzuziehen schien. Es war fast so, als würde sich die dämliche Warteschleifenmusik über mich lustig machen und mich absichtlich auf die Folter spannen. 
"Ruby, es ist schön, dass du dich entschieden hast, mit mir zu sprechen."
Die Stimme von Doktor Green hatte sich über die Zeit hinweg gar nicht verändert. Sie hörte sich noch immer sanft an und war mit einer Spur von Wärme erfüllt, die ich so oft gebraucht hatte. 
"Doktor, ich hätte nicht gedacht Sie noch einmal zu hören. Was verschafft mir die Ehre?"
Ich krallte mich noch weiter in meine Decke. Weshalb rief sie mich an?
"Du musst nicht nervös sein, es ist nichts Schlimmes passiert. Es gibt keinen Grund sich an etwas festzuklammern, das verspreche ich dir."
Meine Finger lösten sich langsam. Diese Frau kannte mich einfach zu gut!
"Verraten Sie mir den Grund weshalb Sie anrufen, Doktor Green?"
Nervös war ich zwar immer noch, aber es legte sich langsam.
"Ich habe wirklich sehr lange überlegt, ob ich dich fragen soll, aber mehr als Nein sagen kannst du sowieso nicht, also dachte ich, dass ich es probiere. Unsere Einrichtung hat in einem guten Monat zwanzigjähriges Bestehen und das muss gefeiert werden. Aus diesem Grund veranstalten wir eine Jubiläumsfeier. Es ist sogar eine Jubiläumswoche, wenn ich ganz präzise bin. Es dürfen alle Patienten und Patientinnen mitmachen, wenn sie sich im Stande dazu fühlen. Wir wollen unter anderem auch ehemalige Patientinnen und Patienten einladen, damit sie, sollten sie es wollen, von ihren Erfahrungen hier berichten können. Wenn jemand weiß wie schwer diese Zeit hier sein kann, dann du. Deshalb dachte ich, dass du vielleicht etwas erzählen möchtest, unseren gegenwärtigen Patientinnen und Patienten Mut machen willst. Aber um ehrlich zu sein, ist das nicht der einzige Grund weshalb ich dich anrufe. Da du mittlerweile als DJ arbeitest, wollte ich wissen, ob du möglicherweise Interesse daran hättest bei unserer kleinen Disco, die wir planen, für die Musik zu sorgen. Nachdem, was ich von deinen Leistungen gehört und gesehen habe, scheinst du unglaublich gut in dem zu sein, was du tust. Ich kann natürlich auch verstehen, wenn du nicht kommen möchtest. Es war nur ein Gedanke und wenn du nicht willst, dann ist es auch okay. Ich gebe dir Zeit, entscheide dich und melde dich dann nochmal, die einzige Bedingung, die ich habe, ist, dass du es zwei Wochen vorher tust. Wir haben noch jemanden, den wir bezüglich der Musik fragen können, mach dir also bitte keinen Stress. Ich kann mir vorstellen, dass du dich möglicherweise gerade ein wenig überrumpelt fühlst. Von daher nimm dir genug Zeit, um darüber nachzudenken."
Ich fuhr mir durch die Haare.
"Erzähl mir, Ruby, wie geht es dir? Lebst du noch immer in New York?"
Ich entspannte mich ein wenig.
"Ja, ich lebe nach wie vor in der sogenannten Stadt, die niemals schläft. Und es geht mir gut."
Es herrschte kurze Stille auf der anderen Seite der Leitung.
"Wie geht es dir wirklich?"
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
Wieso dachte ich überhaupt, dass ich ihr was vormachen könnte?
"Es ist unterschiedlich. Ich habe gute und schlechte Tage. Aber bevor Sie fragen, ich verspüre den Drang nicht, es geht dabei eher um sie..."
"Das verstehe ich natürlich. Deshalb möchte ich erst recht, dass du dir das alles gut überlegst."
Ich wusste wirklich nicht, ob ich im Stande dazu war, noch einmal dorthin zu gehen. Auf der einen Seite verband ich diesen Ort, doch vor allem diese Stadt mit den Erinnerungen, die ich lieber vergessen würde. Auf der anderen Seite jedoch, hatte mir diese Einrichtung unglaublich viel geholfen und sicher tat es anderen Betroffenen gut, mit Leuten zu reden, die den Kampf gewonnen hatten. Wenn sie Erfahrungen von Menschen mitbekamen, denen es mittlerweile viel besser ging, so konnten sie sowohl neuen Mut als auch neue Hoffnung schöpfen. Die einzigen beiden Dinge, die mir zu meiner Zeit Trost gespendet hatten. Wenn Betroffene merkten, dass es auch noch einen anderen Weg gab, so würde ihn vielleicht einiges an Leid erspart werden. Trotzdem hieß es, dass ich dann wieder zurück nach London müsste, in die Stadt, die ich für den Rest meines Lebens hatte hinter mir lassen wollen.
"Ruby, ich zwinge dich ni-"
"Ich komme. Ich werde die ganze Woche dabei sein. Es hat schon genug Schaden angerichtet, da wird es den Betroffenen gut tun, Erfolge zu hören. Sie können auf mich zählen, Doktor Green."
Ich konnte sie bereits lächeln sehen.
"Das weiß ich doch, meine Liebe."

"Ruby? Ist alles in Ordnung? Du bist schon ziemlich lange da drin, geht es dir gut?"
Das Klopfen an der Badezimmertür holte mich wieder in die Gegenwart zurück.
"Wenn es dir nicht gut geht, kann ich auch irgendetwas bringen, das möglicherweise hilft...", bot Grace vorsichtig an, als hätte sie Angst vor meiner Reaktion.
Ich stand auf und ging zum Waschbecken, um mir ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Du bist hier bei ihr und das fühlt sich toll an, kein Grund, um irgendwelche Panik zu schieben. Du hattest eine tolle Zeit mit ihr und wirst die letzten Stunden, die du mit ihr verbringen kannst, genießen.
"Mir geht's gut, Grace, keine Sorge."
Das Schloss klickte, die Tür quietschte beim Öffnen ein bisschen und ein paar Sekunden später schaute ich ihr wieder in die moosgrünen Augen.
"Bist du dir sicher? Haben dich die beiden ein bisschen überfordert?"
"Hey! Warum sind wir wieder Schuld?", rief Jeremy, doch ich schüttelte nur lächelnd mit dem Kopf.
"Mir geht es gut, ich war nur in Gedanken."
Grace nickte und schaute mich einen langen Moment an.
"Ich würde dir gern mein Zimmer zeigen", sagte die Rothaarige und lächelte schüchtern.
"Klar doch, ich bitte darum. Geh voraus."
Sie lächelte noch breiter und drehte sich um, sodass mein Blick kurz ihren hinunter Rücken glitt.
Verdammte Scheiße, was ist an ihr eigentlich nicht attraktiv?

Tja Cookies, hier ist wieder ein neues Kapitel! ❤️
Ich hoffe, dass es euch gefallen hat und dass es euch generell gut geht :)
Kann jemand von euch erahnen, was passiert ist? Und habt ihr Vorstellungen für das Zimmer von Grace? ;)
Read you next week ;*
Momofelton ❤️

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt