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Bis heute hatte ich Harrys Gesicht nicht vergessen. Allerdings wusste ich nicht, ob die Überraschung in seinen Augen an Grace oder an mir gelegen hatte.
„Mir wurde gesagt, dass du British Breakfast bestellt hast. Einmal vegan und einmal nicht vegan, ist das richtig?"
Erst musterte er mich, dann legte er die Stirn in Falten.
Siehst du immer noch verheult aus?
„Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass ich dich noch einmal wiedersehen würde, um ehrlich zu sein, Ruby. Ich dachte, du würdest dein Frühstück woanders verbringen, aber gut, da habe ich mich wirklich geirrt. Du bekommst es in der veganen Variante, richtig? Moment, hier sind beide drauf."
Ich nickte und nahm das Tablett an mich. Dann trat ich zurück, sodass der Portier freie Sicht auf Grace hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen und begrüßte sie, wobei mir auffiel, dass er ein bisschen mehr Farbe auf den Wangen bekam, als sie ihn anlächelte.
Bist du also nicht die Einzige, die ihr Lächeln unwiderstehlich findet... Moment... Was?!
„Ja, dann habt noch eine schöne Zeit."
Harry kam zu mir und zog mich kurz in eine Umarmung.
„Ruby, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, dann wünsche ich dir eine gute Zeit. Viel Spaß in New York, ich bin sicher, du wirst in Manhattan alle verzaubern. Wenn ich Urlaub und mir genug angespart habe, komme ich dich vielleicht mal besuchen und sehe mir eine deiner Shows an! Wir sehen uns!"
Anschließend nahm er den kleinen Wagen, auf dem er unser Frühstück transportiert hatte, und verschwand. Grace hatte sich inzwischen schon wieder auf dem Balkon platziert und sah mich abwartend an.
„Darf ich jetzt alles allein tragen, oder was?"
Ich hob die Augenbrauen und sie grinste.
„Warum nicht? Ich hab mich gerade hingesetzt und echt keine Lust, nochmal aufzustehen!"
Dabei machte sie unglaublich große Augen und klimperte mit ihren langen Wimpern. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte ich es sicherlich noch kommentiert, doch jetzt wollte ich ihr nichts mehr abschlagen, also verdrehte ich gespielt genervt die Augen und stellte das Tablett vor ihrer Nase ab.
„Nun, da hast du dein Frühstück. Ganz persönlich von mir zugestellt. Was bekomme ich jetzt dafür?"
Sie biss sich auf die Unterlippe und sah zu mir hoch.
„Ich würde dir ja jetzt einen Kuss anbieten, aber ich denke nicht, dass du mein Angebot annehmen wirst..."
Sie schaute auf ihren Schoß und tat so, als gäbe es etwas sehr Interessantes auf ihrer Hose zu finden. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich kniete mich vor sie auf den Boden, um ihr Kinn anzuheben.
„Auch wenn ein Kuss unfassbar verlockend klingt, schlage ich etwas Anderes vor. Darf ich dir den Vorschlag machen?"
Irgendetwas in ihrem Blick veranlasste mich dazu, sie vorher zu fragen.
„Klar darfst du das. Meine Aufmerksamkeit gilt ganz dem, was du zu sagen hast."
Mein Lächeln wurde noch eine Spur sanfter und ich erhob mich wieder, um mich ihr gegenüber auf dem Stuhl nieder zu lassen.
„Das ist der Punkt, Grace. Du richtest deine Aufmerksamkeit immer auf mich, aber ich weiß kaum etwas über dich. Ich möchte dich besser kennenlernen."
Sie sah mich schüchtern an.
„Auch wenn du mich nicht wiedersehen wirst, wenn du in das Flugzeug gestiegen bist?"
Ich nickte eifrig.
„Ja, auch in diesem Fall."
Mir entging nicht, dass sie sich in der gesamten Situation unwohl fühlte, weshalb ich nach ihrer Hand griff, sodass sie mich ansah.
„Nur das, was du mir auch wirklich erzählen willst. Du weißt doch, ich zwinge dich zu nichts. Ich mache dir noch zwei weitere Vorschläge. Wir essen erstmal, währenddessen kannst du überlegen, was du mir erzählen möchtest und wenn es dir dann immer noch unangenehm ist, dann stelle ich dir ein paar Fragen, die du beantworten könntest, wenn du wolltest."
Sie nickte und ihr Körper entspannte sich langsam.
„Ich bin wirklich nicht gut darin, von mir zu erzählen. Aber deinen Vorschlag, dass wir erst essen, finde ich gut. Danke."
Sie lächelte, schwächer als ich es durch die letzten Stunden gewohnt gewesen war, und wir begannen mit unserem Frühstück. Ohne Witz, ich liebte Baked Beans. Harry hatte es sich anscheinend gemerkt und in der Küche Bescheid gegeben, denn auf meinem Teller befand sich eine riesige Portion davon. Für eine längere Zeit hörte man nichts, außer Kaugeräuschen und das regelmäßige Kratzen unseres Bestecks auf den Tellern. Ich war positiv überrascht davon, wie gut sie das Rührei aus Tofu hinbekommen hatten. Man konnte über die englische Küche sagen, was man wollte, aber wenn man die richtigen Orte kannte, so fand man doch leicht etwas Gutes zu essen.
Mir entging nicht, dass Grace deutlich langsamer aß und ich wurde das Gefühl nicht los, als wollte sie dem Gespräch zwischen uns aus dem Weg gehen. Meine Vermutung bestätigte sich umso mehr, als ich meinen Teller geleert und sie noch immer etwas übrighatte.
„Dir ist schon klar, dass ich dich nicht zum Reden zwinge, oder? Wenn du nichts über dich erzählen willst, dann musst du das nicht. Natürlich, ich gebe zu, dass ich wirklich gern etwas über die Person erfahren würde, mit der ich die ganze Nacht unterwegs war, aber ich möchte keinesfalls, dass du dich irgendwie unwohl fühlst, deshalb..."
„Nein, Ruby, das ist es nicht", unterbrach sie mich, „ich möchte dir ja unglaublich gern von mir erzählen, aber ich weiß einfach nicht, ob da etwas dabei ist, was dich interessieren würde..."
Da war er. Der erste klitzekleine Punkt, der mich hinter eine andere Seite von Grace blicken ließ. Eine Seite, die möglicherweise gar nicht so stark war, wie ich anfangs gedacht hatte.
Ich lehnte mich ein bisschen nach vorn, um erneut vorsichtig nach ihrer Hand zu greifen.
„Hör zu, ich weiß nicht, woher diese Zweifel jetzt kommen, aber ich bin sicher, dass mich all das interessiert, von dem du bereit bist, mir zu erzählen. Es muss ja nichts Weltbewegendes sein, ich möchte einfach nur mehr über dich wissen und selbst wenn es nur deine Lieblingsfarbe ist, dann interessiert es mich und ich bin damit zufrieden. Du studierst Literatur, habe ich recht? Lass den Worten einfach freien Lauf, sie werden sich schon zu etwas zusammensetzen, mit dem ich etwas anfangen kann."
Ihr Blick hellte sich ein wenig auf und ein kleines Grinsen schlich sich auf ihre Lippen.
„Wirst du jetzt öfter mit dem Argument Literaturstudium kommen, damit ich anfange zu reden?"
„Kommt drauf an, ob es Sinn macht."
Ich lehnte mich wieder ein bisschen zurück und nahm eine entspannte Haltung ein, um ihr zu signalisieren, dass ich ihr zuhörte. Sie rutschte ein wenig nervös auf ihrem Stuhl hin und her, sodass ich noch eine Schüppe draufsetzte, um sie aus der Reserve zu locken.
„Stell dir einfach vor, du erzählst mir eine Geschichte mit einer vollkommen frei erfundenen Person. Du kannst der Figur sämtliche Charaktereigenschaften und Hintergrundgeschichten geben, die du willst. Hilft dir das?"
„Die Idee ist gut, aber irgendwie habe ich dann das Gefühl, ich würde dich anlügen und das ist tatsächlich das Letzte, was ich gerade möchte. Von daher fange ich jetzt einfach an zu erzählen, sonst sitzt du die ganze Zeit da und langweilst dich."
Ich wollte ihr gerade erneut sagen, dass ich mich nicht langweilen würde, doch da fing sie bereits an zu erzählen.
„Dass ich Grace heiße und 22 Jahre alt bin, weißt du ja schon. Außerdem habe ich dir bereits gesagt, dass ich Literatur studiere und Mason hast du auch schon kennengelernt. Ich bin hier aufgewachsen, hatte eine wirklich gute Kindheit und bin eher eine introvertierte Person. Meine Freizeit verbringe ich damit, mich in irgendwelchen Büchern zu vergraben oder ich gehe irgendwo zwischen meinen Skripten verloren. Wenn ich Lust dazu habe, hole ich auch manchmal meine alte Gitarre heraus und spiele ein paar Akkorde, obwohl ich nicht wirklich gut spielen kann."
Genau und genau aus diesem Grund spielst du „Where's My Love" so, als hättest du nie etwas anderes getan!
Natürlich hätte ich sie zu diesem Zeitpunkt unterbrechen können, aber ich befürchtete, wenn ich jetzt dazwischen sprach, würde sie sicherlich nicht mehr weiterreden, also beließ ich es dabei.
„Ich verbringe dennoch unglaublich gern Zeit mit Jaz und Jeremy. Glaub mir, ich hätte keine besseren Personen bekommen können, mit denen ich zusammenwohne. Wir sind alle unglaublich unterschiedlich, aber wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum wir so gut miteinander zurechtkommen. Egal was wir machen, es ist immer lustig, vor allem wenn wir einen vollen Tag hatten und uns dann vor den alten Fernseher im Wohnzimmer setzen, um unzählige Folgen von Friends zu gucken. Wenn ich gerade nichts für die Uni mache, gehe ich gern in ein kleines Café, das es um die Ecke des Campus gibt. Meist sieht man mich dort mit einem meiner Skripte, meinen Kopfhörern im Ohr und neben mir auf dem Tisch steht ein Caramel Frappuccino, der so verflucht süß ist, dass man danach erstmal nichts anderes zu sich nehmen kann. Ansonsten passiert allerdings nicht wirklich irgendwas in meinem Leben, wenn ich ganz ehrlich bin. Klar, ich bin auch mit meinen Freunden unterwegs. Normalerweise sind es nicht solche Idioten wie die, die mich gestern in den Club geschleppt haben. Tonya, Mason, Zander und Chuck sind echt klasse, auch wenn sie ihre Eigenarten haben..."
Sie kam zum Ende und sah mich dann vorsichtig an, als erwarte sie, ich würde nun ein Urteil über das fällen, was sie mir gerade erzählt hatte. Ein negatives Urteil vermutlich, denn ihre Augen hatten einen bestimmten Ausdruck, der verdammt viel Unsicherheit ausstrahlte. Ich wollte erneut nicht, dass sie sich auf irgendeine Art und Weise unwohl fühlte.
„Einen Caramel Frappuccino? Echt? Kannst du überhaupt noch schlafen, wenn du den getrunken hast? Wenn ich mir den vor einem meiner Auftritte einflößen würde, könnte ich sicherlich die ganze Nacht durchmachen, ohne einen weiteren zugeführten Energieschub zu brauchen."
Grace zuckte nur mit den Schultern.
„Man gewöhnt sich dran, dann ist der Schub nicht mehr so riesig. Wenn es nicht so süß wäre, würde ich sicherlich mehr davon trinken, damit ich den Kick bekomme. Wäre für meine Hausarbeiten manchmal bestimmt nicht schlecht."
Im Laufe der vergangenen Stunden war es nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, sie unterschätzte sich.
„Es geht mich wirklich nichts an, Grace, aber kann es sein, dass du nicht sehr überzeugt von dir selbst bist?"
Die Rothaarige biss sich auf die Unterlippe.
„Was hat mich verraten?"
Ich stützte das Kinn auf meiner Hand ab und betrachtete jedes Detail ihres Gesichts und versuchte, mir alles einzuprägen. Warum ich es tat, wusste ich nicht.
„Du redest nicht gern über dich und es wirkt, als hättest du Angst, man würde dich verurteilen. Wofür auch immer, ich weiß es nicht. Aber ich meine es ernst, ich verurteile dich nicht. Du bist vielleicht der Ansicht, dass dein Leben, so wie es gerade läuft, eintönig ist, aber solange du ihm etwas abgewinnen kannst, das du liebst, dann ist es von Bedeutung, auch wenn es für dich manchmal nicht den Anschein hat. Es ist dein Leben und keiner sollte sich das Recht nehmen, darüber zu urteilen, außer du selbst. Wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich auch gern auf dem Sofa sitzen und mir Friends reinziehen oder gern in einem Café sitzen, um das Gefühl zu haben, ich könnte mich entspannen, aber leider ist das nicht immer so einfach für mich, das hat verschiedene Gründe. Aber ich sage es dir nochmal, wenn du mit dem zufrieden bist, was du tust, dann ist das vollkommen okay und geht niemand anderen etwas an. Wenn du etwas ändern willst, dann ändere etwas, aber nur, weil du es so möchtest. Nicht weil du irgendwie glaubst, dass du damit irgendjemandem einen Gefallen tust."
Grace sah hinunter auf ihre Hände.
„Aber es ist so unglaublich schwer, wenn man das Gefühl bekommt, dass alles und jeder dich verurteilt."
Ich beugte mich wieder ein wenig nach vorne, um ihr Kinn anzuheben.
„Wenn es eine Sache gibt, die ich im Laufe der Jahre gelernt habe, dann, dass man einen verfluchten Fick darauf geben sollte, was die Gesellschaft von dir denkt. Leider ist es so, dass die Menschen sich immer ein Urteil bilden. Wenn sie dich nicht besser kennenlernen, dann scannen sie dich ab und haben alles, was sie brauchen. Oft kennt die Gesellschaft nur einen kleinen Teil deiner Person, aber selbst zu dem Zeitpunkt bestimmst einzig und allein nur du, was sie zu sehen bekommt. Und sollte es deinen Mitmenschen nicht passen, dann ist das deren Problem, aber keinesfalls dein eigenes."
Sie schwieg für unzählige Minuten, die mich aus irgendeinem mir unbekannten Grund quälten. Dann sah sie mich an und ihre Pupillen waren geweitet. Entweder das Koffein kickte, sie war nervös oder sie bewunderte etwas.
„Hast du oft mit Urteilen zu kämpfen gehabt?"
Ein schwaches Lächeln zierte meine Lippen.
„Zu oft, um es noch zählen zu können. War schon in der Schule so. Ich habe gelernt damit umzugehen, auch wenn es nicht immer leicht gewesen ist. Aber das, was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker."
„Und was ist, wenn deine eigene Familie das Problem ist?", flüsterte sie und wagte es nicht, mich anzusehen.
Mein Lächeln wurde nun eine Spur sanfter.
„Dann muss man versuchen mit der Familie zu reden und wenn das nicht hilft, zieht man das eigene Ding einfach durch, egal ob es möglicherweise schwierig sein könnte. Es ist dein Leben, Grace."
Sie sah mich für eine Weile an, dann sah sie mich mit diesem wunderschönen Lächeln an.
„Danke Ruby. Das hat mir geholfen."
„Kein Problem", sagte ich, während ich mich erhob.
„Bist du fertig? Kann ich abräumen?"
Grace nickte, hielt mich allerdings am Handgelenk fest, als ich gerade nach den leeren Tabletts greifen wollte.
„War es das jetzt eigentlich mit uns beiden? Schmeißt du mich raus?"
Ich musste wirklich verwirrt aussehen, denn der kleine Rotschopf setzte nochmal einen drauf.
„Ich meine, wir haben die Nacht zusammen verbracht, du hast mich bei dir schlafen lassen und ich habe Frühstück bekommen. Wozu brauchst du mich denn jetzt noch? Dein Flieger geht bald..."
„Oh Grace", fing ich an, „ich genieße es Zeit mit dir zu verbringen. Ich bin noch bis heute Abend in der Stadt. Wenn du magst, können wir noch etwas unternehmen."
Ihre Augen fingen an zu strahlen. Nichts und niemand hätte ihr das Grinsen aus dem Gesicht wischen können, außer sie hätte vielleicht in eine Zitrone gebissen.
„Ich bin dabei!"
„Perfekt. Ich muss um 10:00 Uhr aus dem Zimmer sein. Außerdem muss ich noch ein wenig aufräumen und meinen Koffer ordentlich packen, allerdings kann ich das überhaupt nicht", gab ich zu.
Sie stand auf und hatte dieses Glitzern in ihren grünen Augen.
„Wir machen einen Deal. Du räumst auf und ich kümmere mich um deinen Koffer."
Ich grinste breit. Keine Ahnung, warum ich es einer für mich eigentlich fremden Person erlaubte in meinen Sachen herum zu wühlen.
„Deal."

Hallo Cookies ❤️
Heute gab es mal einen Einblick in die Geschichte von Grace, in der Vorurteile oder Urteile allgemein eine große Rolle spielen.
Ich hoffe, dass es euch trotz der Thematik gefallen hat :)
Lasst mir gern ein Feedback da ;)
Read you next week ;*
Momofelton ❤️

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