15:00

139 18 2
                                    

"Setz dich ruhig, Ruby", sagte Grace und klopfte auf den leeren Platz neben sich auf ihrem Bett. Ich hatte das allerdings kaum mitbekommen, da meine Aufmerksamkeit ganz und gar ihrem Zimmer galt. Ich wusste überhaupt nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Der Raum war nicht sonderlich groß, trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich eine Zeitreise begonnen. Als ich das Zimmer betrat, fiel mir sofort ein alter Plattenspieler ins Auge und ich fühlte mich innerhalb von Sekunden wohl. Im Regal darunter lagen ein paar Platten und es juckte mich in den Fingern, sie mir sofort anzusehen, doch ich widerstand dem Drang. Ihr Bücherregal war bis zum Bersten überfüllt, aber irgendwie passte das zu ihr. Ich trat näher heran, um die Buchtitel näher unter die Luppe zu nehmen. Sie hatte vieles von Jojo Moyes, John Green, ein Buch von Emma Scott. Ich hatte von vielen gehört, doch hatte die Bücher selbst nie gelesen. Ich entdeckte auch einiges an queerer Literatur, die ich mir allerdings nicht genauer ansah, da ich von den vielen Lichterketten an der Decke abgelenkt wurde. Sobald man sie anschaltete, würde sich bestimmt ein wunderschönes Lichtermeer ergeben. Wie sie die da allerdings konstruiert hatte, konnte ich beim besten Willen nicht beantworten. Über ihrem Bett hingen Polaroidfotos und ich erkannte Jazman und Jeremy auf einigen davon. Auch T und Mason waren ein Bestandteil von einigen Bildern. An ihren Wänden befanden sich viele Bilder in einzelnen gläsernen Rahmen. Als ich näher hinsah, wurde mir klar, dass es sich dabei um Cover von Songs handelte. Ich hatte noch nie eine so coole Dekoration gesehen. Das würde ich definitiv auch machen! Diese Deko wurde von der Gitarre getoppt, die neben dem Song Adore You von Harry Styles hing. 
Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem jede Menge Kram lag. Viele Unterlagen, Bücher und ein Laptop. Auf dem Fenstersims stand eine kleine Pflanze. 
"Und? Magst du es?" 
Grace musste wohl aufgefallen sein, dass es mir hier gefiel.
"Es ist toll. Und im Ernst, ich finde die Deko mega. Du hast einen Plattenspieler, das ist genial, keine Ahnung wann ich zum letzten Mal einen gesehen habe."
Ich ließ mich neben ihr dem Bett nieder, wobei es sich dabei eher um eine Burg aus Kissen handelte. Mir war nicht klar, dass so viele Kissen in ein Bett passen würden.
"Die Leute sagen immer, ich wäre retro, aber mir gefällt es so. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich entschieden habe das Zimmer so einzurichten."
Ich hob die Augenbrauen.
"Wieso das?"
Grace lächelte und sah sich im Raum um.
"Ich habe sehr lange gebraucht, um mich von den alten Möbeln zu verabschieden, mit denen ich hier eingezogen bin. Ich mit ihnen aufgewachsen. Außerdem hatte ich ich lange keine Ideen, doch irgendwann kam mir der Geistesblitz. Mittlerweile bin ich sehr zufrieden mit dem, was ich aus meinem Zimmer gemacht habe."
Ohne darüber nachzudenken, ließ ich mich nach hinten in die Burg der Kissen fallen und starrte an die Decke.
"Du denkst wirklich sehr viel nach, oder?"
Sie ließ sich neben mir fallen. 
"Leider ja, aber ich lerne, dass es gut ist auch mal nicht nachzudenken. Fällt mir schwer, aber um ehrlich zu sein, ist das auch ein Grund, weshalb ich die Zeit mit dir so genieße. Ich habe das Gefühl, nicht nachdenken zu müssen. Dass ich so sein kann, wie ich es möchte. Dass ich so sein kann, wie ich bin und dich stört es nicht, das macht einiges einfacher für mich."
Ich drehte meinen Kopf zu ihr und hob die Brauen.
"Warum sollte es mich stören? Ich mag dich und wenn du sagst, dass du dich nicht verstellst, dann ist es umso besser. Weißt du, ich hatte vor Kate viele Frauen, die sich meiner Meinung nach nur verstellt haben, um mit jemandem ins Bett zu kommen, in diesen Fällen mit mir. Sie haben sich so verstellt, dass ich genug daran interessiert war, mit ihnen die Nacht zu verbringen, also mit ihnen zu schlafen. Tatsächlich habe ich, bevor du dich zu mir gesetzt hast, nach einer Person gesucht, die ich in meiner letzten Nacht in dieser Stadt abschleppen könnte, wenn wir schon mal ehrlich sind."
"Aber warum hast du es dann nicht getan?"
Ich sah ihr an, dass sie den Grund zwar kannte, ihn aber unbedingt aus meinem Mund hören wollte. Ihre Augen funkelten und sie grinste. Auch meine Lippen verformten sich zu einem leichten Grinsen und ich reckte das Kinn. 
"Was bekomme ich dafür, wenn ich dir den Grund nenne?"
Grace tat so, als müsste sie überlegen.
"Wenn du es mir sagst, darfst du in meinen Platten herumwühlen. Ich habe doch gesehen, wie deine Augen geleuchtet haben."
Sie beobachtet dich einfach zu gut und weiß, wie sie dich rumkriegt. So unschuldig wie sie immer tut, ist sie gar nicht!
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah ihr tief in die Augen. 
"Du spielst ziemlich gemein, das weißt du, oder?"
Sie war vielleicht gut im Beobachten, aber ihr Lächeln konnte sie schwer verbergen. 
"Ich weiß überhaupt nicht, wovon du da redest, Ruby."
Ich verdrehte lächelnd die Augen und schüttelte mit dem Kopf. 
"Na gut, ich sag es dir. Aber nur, damit du aufhörst, dich so offensichtlich lustig über mich zu machen."
Ich sah erneut zu ihr hinüber und sie blickte mich mit diesen wundervollen grünen Augen an, in denen ich mich verlieren konnte. 
Konzentrier dich, Idiotin!
"Du warst nun mal deutlich interessanter als ein weiterer, bedeutungsloser One Night Stand. Zufrieden?"
Wieder grinste sie. 
"Aber so was von! Also, du hast deinen Teil erfüllt, jetzt bin ich dran. Geh schon und sieh sie dir an, vielleicht findest du etwas, das dir gefällt.
Damit du etwas siehst, das dir gefällt, brauchst du nicht zum Plattenregal gehen. Das, was dir gefällt, liegt neben dir, aber nein, du möchtest es ja gar nicht sehen!
Ich schüttelte erneut mit dem Kopf und stand auf. Ich spürte, wie mir die Vorfreude in den Körper schoss und übersprang die letzten Schritte. Meine Hände zitterten sogar vor Aufregung, sobald ich die Platten vorsichtig aus dem Regal nahm. Ich hatte lange keinen Plattenspieler mehr in Reichweite gehabt und konnte es kaum erwarten, die Musik zu hören. 
"Sag bloß, du hast Nevermind von Nirvana! Aber um ehrlich zu sein, kenne ich viele von diesen Bands überhaupt nicht, was mich überrascht."
Augenblicklich saß Grace im Bett, so als wäre sie geschockt darüber, mir bandtechnisch voraus zu sein. 
"Welche meinst du?"
Ich sah sie nochmal durch und hielt eine Platte von The 1975 in die Höhe.
"Oh mein Gott, das kann doch nicht dein Ernst sein!"
Augenblicklich stand sie neben mir und nahm mir die Platten aus der Hand. 
"Kannst du wenigstens etwas mit The Neighbourhood und Arctic Monkeys anfangen?"
"Ähm", sagte ich nur und ihre Pupillen weiteten sich. 
"Ruby! Ach du meine Güte! Das kann doch nicht wahr sein!"
Sie fuhr sich durchs rote Haar und beruhigte sich langsam wieder.
"Okay, wir fangen mit The 1975 an, dann kommt Arctic Monkeys, The Neighbourhood und da-"
"Grace", sagte ich und unterbrach sie damit, auch wenn ich das in diesem Moment echt nicht gewollt hatte.
"Ich werde zum Flughafen müssen, uns bleibt deshalb nicht mehr viel Zeit..."
Verdammt nochmal, ich hasste es, das sagen zu müssen.
"Oh ähm... ja... natürlich...", sie kratzte sich am Hinterkopf, "vielleicht belassen wir es einfach bei The 1975, ich bin mir sicher, dass sie dir gefallen. Wann musst du los?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. 
"Gegen 16:00 Uhr, ich weiß, mein Flieger geht erst vier Stunden später, aber ich muss mit dem Taxi eine gute Stunde fahren und naja, es wird sicherlich ziemlich viel am Flughafen sein, also ist es besser, wenn ich so früh da bin..."
"Ja, ich verstehe schon, sicher würde ich es genauso machen."
Dann lächelte sie, legte die anderen Platten wieder ins Regal zurück, legte diese eine Platte vorsichtig auf und ging dann zum Bett zurück, während die Musik leise im Hintergrund zu spielen begann. 
"Kommst du jetzt wieder her oder was?"
Grace streckte die Hände nach mir aus und ich musste lächeln. Ich hatte keine Ahnung was und wie sie es tat, aber meine Güte, wer konnte ihr schon widerstehen?
"Bin ja schon auf dem Weg, mach mal keinen Stress."
Sie grinste und ließ sich wieder nach hinten in die Kissenburg fallen, was ich ihr einen Moment später gleichtat. 

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt