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Wer jetzt dachte, dass in queeren Clubs beziehungsweise Bars beispielsweise nur Lady Gaga oder Beyoncé gespielt wird, der hat sich gewaltig geschnitten. Es tut mir nicht leid, dass ich eurer Klischee  vielleicht gerade zerstört haben könnte, aber so ist es nun mal. 
Während die anderen Gäste langsam aber sicher zu einer Masse verschwammen, suchten Grace und ich uns einen Weg hinein, um Teil dessen zu werden, was man generell als Anonymität bezeichnete. 
Ich bemerkte wie sie sich leicht sträubte, also drehte ich mich zu ihr um und beruhigte sie mit einem Lächeln. 
Ob man es mir glauben wird oder nicht, mir war in meiner Anfangszeit auch nicht wirklich sehr wohl gewesen, mich innerhalb einer tanzenden Menschenmasse zu bewegen. Doch ich muss ehrlich sagen, dass ich mich in der gesamten Zeit, die ich mittlerweile ohne Kate verbrachte, daran gewöhnt hatte, in der Masse zu verschwimmen, mehr noch als zuvor. Anonymität brachte mich dazu zu vergessen. Das zu vergessen, was mir nach all den Jahren noch wehtat. 
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken an die Vergangenheit loszuwerden. Das konnte ich jetzt nun wirklich nicht gebrauchen. 
Wieder drehte ich mich zu ihr um und ihr noch immer unsicherer Blick verriet mir, wie unwohl sie sich tatsächlich fühlte. Ich zog sie deshalb ein bisschen näher zu mir, sodass sie mich auch über die laute Musik hinweg verstehen konnte.
"Wir müssen das nicht tun, wenn du nicht willst."
Sie lächelte schüchtern.
"Ich weiß, dass wir das nicht müssen, aber ich möchte es. Ist das schlimm für dich?"
Ich lachte und winkte augenblicklich ab.
"Ob das schlimm für mich ist? Ich finde es toll, wenn du dich etwas Neues traust und immer einen Schritt nach vorne machst. Dann bist du morgen ein Stückchen weiter als du es heute warst."
Grace zog mich noch ein wenig näher.
"Wenn du mich in der Masse im Stich lässt, kann ich nicht für meine nächsten Handlungen garantieren."
Ich zuckte mit den Schultern und grinste. 
"Sollte ich nicht schon längst verschwunden sein, sobald du wieder einen Weg nach draußen gefunden hast."
Grace seufzte und mein Grinsen verwandelte sich augenblicklich in ein etwas sanfteres Lächeln.
"Du musst wirklich keine Angst haben, ich werde auf dich aufpassen. Es sei denn, es sollte sich ergeben, dass du von jemanden angesprochen wirst, die dich dann mit in die eigene Wohnung nehmen will, dann klinke ich mich aus, sorry. Ich möchte nicht das fünfte Rad am Wagen sein."
Sie kicherte und sah mich einen Moment lang an.
"Ich vertraue dir, Ruby."
"Und ich weiß nicht, ob das tatsächlich so eine gute Idee ist."

Bis heute faszinierte es mich, welch einen Effekt Alkohol auf die Leute hatte, die ihn konsumierten. 
Wir befanden uns erst seit ein paar Minuten auf der Tanzfläche, doch Grace war mir nun näher als ich es ihr zuvor zugetraut hätte. Einige der anderen Gäste drängten sich um uns herum, sodass wir unausweichlich aneinander gedrückt wurden. Natürlich störte es mich nicht, ganz im Gegenteil, doch umso amüsierter stellte ich fest, dass meine Tanzpartnerin ihre Hemmungen nach und nach verlor. 
Sie hatte ihre Arme um meinen Hals geschlungen, während meine Hände auf ihren Hüften lagen, die sich immer sicherer im Takt der Musik bewegten. Ich fand "Friends"  von Justin Bieber dazu zwar nicht unbedingt passend, aber wenn ich nicht mehr nüchtern wäre, würde mich das sicherlich ebenfalls einen Dreck interessieren.
"Ruby", schrie Grace mir ins Ohr, "der Abend ist fantastisch!"
"Jetzt kannst du deinen Freunden in Ruhe beweisen, dass du dich doch was traust."
"Die werden Augen machen!", rief sie triumphierend, kicherte und schwankte dabei so gefährlich, dass ihre roten Haarsträhnen mitten in ihr Gesicht fielen.
"Irgendwie ist mir gerade ziemlich schwindelig", gab sie noch immer kichernd zu und da sie nicht die erste Person war, die ich betrunken erlebt hatte, zog ich sie behutsam aus der tanzenden Menschenansammlung.
"Ruby? Was machst du denn da? Wir wollten doch Spaß haben!"
Ich lächelte sie sanft an.
"Den werden wir auch haben, aber erstmal brauchst du ein bisschen frische Luft."
"Nein, das ist überhaupt nicht wahr!", versuchte sie mich bockig zu überzeugen, doch hatte sich im selben Moment an meiner Lederjacke festgekrallt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
"Na komm, nur ein paar Minuten. Danach können wir wieder tanzen gehen, aber jetzt wird es dir gut tun, wenn du für ein paar Minuten nach draußen gehst. Und nein, keine Angst. Du musst nicht allein sein. Wenn du willst, komme ich mit."
Grace nickte und schwankte erneut bedrohlich hin und her, sodass ich sie stützte und an ihren Freunden vorbei führte. 
"Grace? Oh mein Gott, was ist los?", fragte die junge Frau sofort und sprang auf. 
"Sie hat nur ein bisschen zu viel getrunken und vermutlich auch viel zu schnell. Ich bringe sie für ein paar Minuten nach draußen an die frische Luft, das hilft beim Ausnüchtern."
Noch immer sah mich die Dunkelhaarige skeptisch an, also seufzte ich, kramte so gut es ging in der Tasche meiner Lederjacke herum und zog schließlich ein kleines Kärtchen heraus, das ich ihr hinhielt.
"Wenn etwas sein sollte, melde dich bei mir. Sollten wir uns aus welchem Grund auch immer verpissen, schreibe ich dir. Ach, und nur damit ihr es wisst, wenn ihr sie nicht her geschleppt hättet und sie fühlen lassen, als sei es schlecht nicht unbedingt trinken zu wollen, hätten wir diese Situation gar nicht."
Anscheinend hatten sie und ihr Freund mir überhaupt nicht weiter zugehört, denn sie starrten nur wie gebannt auf meine kleine Visitenkarte, die ich für Notfälle immer dabei hatte.
"Ruby Rose? Etwa die Ruby Rose, die in den Clubs auflegt? Aber natürlich! Wie haben wir dich nicht gleich erkennen können?"
Versteht mich nicht falsch, ich wurde wirklich nicht oft außerhalb Amerikas erkannt, aber wenn es passierte, sahen mich die Leute immer an als sei ich der erste Mensch, den sie je zu Gesicht bekommen hatten.
"Wie gesagt, wenn etwas ist, schreibe ich euch."
"Ja, mach das und denk immer daran, leg schön heftig auf!"
Ich verdrehte nur die Augen und eskortierte die noch immer kichernde Grace nach draußen.

Die überraschend warme Nachtluft umhüllte uns wie einen schützenden Umhang. Ich ließ Grace ein wenig entfernt des Bareingangs auf einem Bürgersteig, auf dem sowieso keiner lief, nieder. Dann setzte ich mich neben sie. 
Ihre Haut erschien irgendwie leicht milchig, was ich allerdings bis heute auf das Licht der Laterne geschoben hatte. 
"Weißt du, Ruby, das Leben ist komisch."
Sie sah mich an und ich erkannte an ihren nun nicht mehr so schleierhaften Augen, dass ihr die Luft bereits gut tat. 
"Wem sagst du das, Gingerhead. Das Leben ist tatsächlich komisch, doch wenn wir erstmal einen Platz gefunden haben, an den wir gehören, ist es alles nicht mehr ganz so scheiße. Und jeder Mensch wird diesen Platz irgendwann finden."
Sie lächelte mich an und es würde nicht das erste Mal in dieser Nacht sein, dass ich dieses Glitzern in ihren Augen sah.
"Du klingst so, als hättest du deinen Platz bereits gefunden."
Ich lachte kurz auf und mir war klar wie verbittert es klingen musste.
"Es ist zwar schön, dass du das glaubst, aber das habe ich nicht und das werde ich auch niemals."
Meine Kälte, die ich unabsichtlich in meine Antwort gesteckt hatte, schien sie nicht abzuschrecken, eher im Gegenteil. Sie rutschte noch ein Stückchen näher an mich heran. 
"Wieso glaubst du, dass du diesen Platz nicht finden wirst?"
Dabei tätschelte sie mir sanft die Schulter.
"Ich bin immer die Ausnahme gewesen, Gingerhead. Und das wird sich nicht ändern, für den Rest des Lebens nicht. Zumindest nicht in meinem Leben."
Dass ich diesen sogenannten Platz bereits gefunden und doch so schnell verloren hatte, würde ich ihr nicht erzählen. Dafür war das Risiko zu groß, dass es mich wieder vollkommen fertig machen und ich erneut daran zerbrechen würde.
"Aber vorhin hast du gesagt, dass Veränderungen gut sind", stellte Grace fest und sah mich mit riesigen Augen an.
"Das sind sie auch, Kleine, aber für manche Menschen ändert sich nicht oft etwas zum Positiven. In meinem Fall zum Beispiel."
Sie erhob die Brauen.
"Was kann dir das Leben angetan haben, dass du es jetzt so sehr hasst?"
Es hat mir den Menschen genommen, den ich am meisten geliebt habe...
"Ich hasse das Leben nicht, Grace. Wenn ich es hassen würde, würde ich sicherlich nicht hier mit dir sitzen. Aber meiner Meinung nach ist es mir gegenüber einfach nicht fair gewesen."
"Aber Ruby", fing sie an, "das Leben kontrolliert nicht dich, sondern du kontrollierst das Leben."
Wieder schlich sich ein schwaches Lächeln auf meine Lippen.
"Anscheinend habe ich die Kontrolle dann schon eine sehr lange Zeit verloren."
Als sie eine Weile nichts sagte und ich dann wieder zu ihr hinüber schaute, fiel mir auf, dass Grace erneut ziemlich blass geworden war. Nun waren wir anscheinend bei einem eher negativen Effekt  des Alkohols angekommen. 
"Kleines? Fühlst du dich nicht gut?"
"Ist es denn so offensichtlich?"
Sie versuchte noch ein Lächeln zustande zu bringen, doch versagte dabei kläglich. 
"Ruby, ich glaube, ich muss jeden Moment kotzen..."
Ich, die wirklich mehr Alkohol vertrug, reagierte sofort und zog die nun wieder wie eine Leiche aussehende Rothaarige auf die Beine. Bis heute bin ich unglaublich dankbar, dass an dem Laternenpfahl, neben dem wir gesessen hatten, ein Mülleimer befestigt gewesen war.
Während Grace das tat, was ein Mensch manchmal eben tun musste, hielt ich ihre Haare in meinen Händen. Es war nicht das erste Mal, dass ich moralische Unterstützung in solch einer Situation leistete. 
"Lass alles raus, Grace. Das meine ich ernst. Alles. Spuck's aus. Im wahrsten Sinne des Wortes."
Mit einer Hand tätschelte ich sanft ihren Rücken. Nach ein paar weiteren Momenten, in dem sie genau das tat, was ich ihr gesagt hatte, kam sie wieder hoch, nun weniger blass im Gesicht als noch vor ein paar Minuten.
"Oh mein Gott, das ist mir so unfassbar peinlich...", flüsterte sie leise und mied meinen Blick.
"Hey", sagte ich und hob ihr Kinn leicht an, sodass sie mich ansehen musste, "das muss dir wirklich nicht peinlich sein, ich habe schon viel Schlimmeres gesehen. Außerdem scheinst du eigentlich ganz gut auf dem Damm zu sein, dafür dass du dir gerade die Seele aus dem Leib gekotzt hast."
Jetzt wurde sie sogar ein wenig rot und ich musste nur breiter lächeln. 
"Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich nach Hause bringe."
"Nein!", rief sie sofort und sah mich erneut mit riesigen Augen an.
"Ich möchte noch nicht, dass dieser Abend vorbei ist. Bitte..."
Ich seufzte schwer und mir wurde schnell klar, dass ich diesen Augen nur schwer widerstehen würde. 
"Von mir aus, aber dann bringe ich dich an einen Ort, an dem du in Ruhe einen Tee bekommst. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch, komm mit."
Ich nahm ihre Hand in meine und ein wohliges Gefühl beschlich mich. Ein sehr bekanntes, vielleicht zu bekanntes Gefühl. Kurz schloss ich die Augen und atmete tief durch, um die Bilder in meinem Kopf loszuwerden, bevor ich Grace noch immer behutsam den Bürgersteig entlang führte. Ich kannte genau den richtigen Ort für uns.

Tja, da ist Grace der Alkohol nicht bekommen. Tatsächlich habe ich bei mir selbst festgestellt, dass ich sehr schnell angetrunken bin, dann aber auch schnell wieder ausnüchtere. Komisch.
Naja, ich hoffe, dass es euch allen gefallen hat und dass es euch gut geht! :)
Read you next week ;*
Mo ♥️

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