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"Ruby? Rubs? Wach auf, wir sind da."
Irgendetwas zog an meinem Ärmel und ich versuchte es loszuwerden, indem ich es wegstieß. Ich hörte ein leises Lachen in meiner Nähe.
"Ruby, wirklich, du musst aufwachen oder das Flugzeug wird ohne dich nach New York verschwinden, das kann ich wohl oder übel nicht zulassen."
Ich öffnete langsam die Augen und blinzelte verschlafen. Es dauerte ein bisschen, bis mir klar wurde wo und mit wem ich mich hier befand, doch einen Moment später saß ich kerzengerade auf der Rückbank.
"Ich bin wach!"
Ich löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und trat hinaus, damit Grace es mir gleichtun konnte. Ich war währenddessen damit beschäftigt, mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen und merkte, wie es zu regnen begann.
"Das ist ja mal wieder typisch, ich hatte wirklich geglaubt, dass es nicht regnen würde", sagte sie und nahm mein Board unter den Arm, damit ich mich um den Koffer kümmern konnte. Schließlich bezahlte ich die Fahrerin, bedankte mich und der Wagen fuhr mit quietschten Reifen davon. Ich sah ihm nach, dann drehte ich mich um und blickte über das weite Gelände des Londoner Flughafens Heathrow. Erst jetzt, wo ich kurz vor meiner Abreise stand, fiel mir auf, wie gewaltig er war. Wie viele Leute hier tagtäglich in die verschiedensten Ecken der Welt reisten. Und jetzt gehörte auch ich dazu. Ich würde London in wenigen Stunden verlassen, würde nicht nur Grace, sondern auch sie auf eine gewisse Art und Weise hier zurücklassen, auch wenn ich mir noch nicht sicher war, ob Letzteres so gut in die Praxis umgesetzt werden könnte, aber ich gab mein Bestes.
"Shit, das sieht voll aus, lass uns gehen."
Grace nickte und kam schweigend hinter mir her.

Ich hatte Recht behalten. Am Flughafen war es wirklich ziemlich voll. Ich biss mir kurz auf die Unterlippe und überlegte, ob ich mich schon anstellen und mich somit von Grace verabschieden sollte, doch das konnte und wollte ich ihr nicht antun. Nicht nur um ihretwillen, sondern auch, weil ich mich noch nicht verabschieden wollte. Alles in mir wehrte sich gegen das unvermeidliche Ende, aber mir war klar, dass ich es nicht ändern konnte. Ich wusste genau, dass ich wieder nach Hause musste, dass es sich bei Grace und mir um eine einmalige Sache handelte. Eine einmalige Sache, die anders verlaufen war als ich es kannte.
"Meine Güte, ich hoffe ich finde alles. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich aus New York wieder hergekommen bin, aber ich denke, das sollte nicht so ein Problem sein."
Grace gab keine Antwort, was ich aber noch nicht als seltsam wahrnahm. Wahrscheinlich war sie einfach überfordert von all diesen Menschenmassen hier. Dagegen war die Tanzfläche in der Bar gestern Abend eine Kleinveranstaltung gewesen. Wir machten uns also auf den Weg durch die Massen, bis ich schließlich mein Terminal gefunden hatte. Es war, wie ich es erwartet hatte, ziemlich voll. Typisch, Überseeflüge waren begehrt. Meine Blick schweifte durch die Halle. Hier und da gab es einige kleine Geschäfte, in denen man sich die Zeit vertreiben konnte, bis es Zeit wurde einzuchecken und durch die Sicherheitskontrolle zu gehen. Mir fiel auf, dass Grace noch keinen Ton gesagt hatte, seitdem wir das Gebäude betreten hatten, also drehte ich mich zu ihr um.
"Hey, ist alles in Ordnung bei dir?"
Sie wich meinem Blick aus, was Antwort genug für mich war.
Ich zog sie an der Hand mit mir zu einer der wenigen Sitzmöglichkeiten, die noch frei waren.
Ich drückte sie schon fast auf die Bank und setzte mich dann neben sie.
"Sag schon, was ist los mit dir? Versuch erst gar nicht, mir verklickern zu wollen, dass nichts wäre, du kannst mir nichts vormachen."
Das konnte sie tatsächlich nicht und angesichts der wenigen Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, war das schon irgendwie erstaunlich.
"Grace, bitte erzähl mir, was los ist...", sagte ich noch einmal, doch sie sah nur noch mehr weg.
Ich seufzte und mein Blick wanderte zu den Leuten, die an uns vorbeihetzten oder sich im Gehen mit einem Kaffee in der Hand lachend unterhielten.

Wir schwiegen schon verdammt lange und ich verlor aus irgendeinem Grund langsam die Geduld.
"Grace, meine Güte, sag mir doch bitte einfach warum du nicht mit mir redest."
Ihr Kopf schoss herum.
"Ich will noch nicht, dass du gehst, kapierst du das denn nicht, Ruby?"
Der schroffe Ton in ihrer Stimme ließ ich mich buchstäblich ein wenig zurückschrecken.
"Ich habe keine Lust darauf, dass du in ein paar Stunden in diesen verfluchten Flieger steigst und ich dich nicht mehr sehen kann. Ich möchte einfach nicht, dass all das schon vorbei ist. Meine Güte, verstehst du das denn nicht?"
Ich setzte mich nun ein wenig aufrechter hin und blickte ihr fest in die Augen.
"Ich verstehe es sehr wohl, aber das ist immer noch kein Grund, dass du nicht mit mir redest. Ich kann doch auch nichts dafür, dass wir uns erst gestern begegnet sind. Also mach mir das verdammt nochmal nicht zum Vorwurf."
"Habe ich doch überhaupt nicht, ich finde es einfach nur beschissen, dass du ausgerechnet jetzt gehen musst", verteidigte sie sich und mein Körper entspannte sich sofort.
Ich war nicht daran gewöhnt, Grace auf irgendeine Art und Weise ruppig zu erleben. Ich wusste noch nicht mal, dass sie dazu in der Lage war. Ich rückte wieder ein bisschen näher zu ihr.
"Ich finde es auch blöd, dass ich verschwinde, ich habe eine tolle Zeit gehabt, aber sieh es mal so, noch bin ich nicht weg."
Ich lächelte sie an, doch sie lächelte nicht zurück, sondern biss sich auf die Unterlippe.
"Kannst du nicht noch länger hierbleiben? Wenigstens noch für ein paar Tage?"
Jetzt war ich eindeutig überrascht. Ich hatte nie im Leben damit gerechnet, dass sie mich so etwas fragen würde, echt nicht.
"Grace", begann ich und hob ihr Kinn an, damit sie mich ansehen musste, "du weißt, dass ich nicht hierbleiben kann. Ich muss wieder arbeiten und selbst wenn ich wollte, könnte ich immer noch nicht bleiben. Ein Übersee von London nach New York ist verdammt teuer und ich kann es mir nicht leisten, diesen Flug verstreichen zu lassen..."
Sie sah mir endlich in die Augen.
"Es tut mir leid, ich hätte das nicht fragen sollen, ich-"
"Hey, es ist okay, ich bin nur überrascht", gab ich zu, strich ihr mit meinem anderen Daumen über die Wange und lehnte mich wieder zurück.

Schweigen herrschte zwischen uns. Ich war hin und her gerissen. Auf der einen Seite störte es mich nicht und auf der anderen Seite wollte ich mit ihr reden. Ich wollte, dass sie aufhörte niedergeschlagen wegen etwas zu sein, das sie sowieso nicht ändern konnte. Trotzdem war es das erste Mal, dass ich nicht genau wusste, wie ich mit ihr umgehen sollte. Das stresste mich, soviel kann ich euch sagen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn ich sie ansprach und doch hielt ich die Stille im nächsten Moment kaum noch aus. Stille passte zu mir, aber auf keinen Fall zu Grace. Grace war das Gegenteil von Stille, das Gegenteil von Schweigen, das Gegenteil von schlechter Laune. Sie war das Gegenteil von mir, zumindest kam es mir so vor. Sie war kein Strudel, der an schlechten Tagen alles und jeden mit sich in die Tiefe reißen würde, wenn man ihr zu nah kam. Ich war so, aber sie nicht. Davon war ich fest überzeugt gewesen.
"Was nützt es traurig zu sein und Angst vor dem Abschied zu haben, wenn der noch nicht da ist?", meinte ich vorsichtig und sie sah mich mit einem kleinen Lächeln an. Ein gutes Zeichen.
"Wir sind ja jetzt schon ein bisschen unterwegs, gibt es etwas, das dir am besten gefallen hat?"
Grace beobachtete eine Weile die Menschen, die an uns vorbei kamen. Sie tat so lange, dass es mich schon wieder quälte. Ich wollte gerade was sagen, da ich die Stille kaum aushielt, doch dann drehte sie sich wieder zu mir um.
"Du glaubst gar nicht, wie schwer es mir fällt, irgendetwas auszusuchen. Irgendwie hat mir alles gefallen, mehr als nur gefallen. Deshalb ist es sehr schwierig, sich für ein einzelnes Ereignis zu entscheiden. Ich glaube einfach, dass es alles ist, alles im Gesamtzusammenhang. Das Interessante ist, dass es mir vorkommt, als hätten wir viel mehr Zeit gehabt, aber letztendlich war es noch nicht mal ein ganzer Tag. Verdammt nochmal, wir haben viel erlebt, auch wenn ich mich jetzt an höre wie eine alte Frau, die ihren Enkeln von ihrer Jugend berichtet. In den letzten Stunden, die ich mit dir verbracht habe, waren wir an so vielen Orten, wir haben einander Leute vorgestellt, die für uns wichtig sind oder es immer sein werden. Du hast mir Dinge erzählt, von denen ich nicht erwartet hätte, dass du sie ausgerechnet mir erzählen würdest. Um ehrlich zu sein, werde ich wahrscheinlich nie ganz verstehen warum, doch ich bin mehr als froh, denn irgendwie scheint es dir geholfen zu haben und das ist das Wichtigste. Wir haben getanzt, waren mehrmals essen, ich bin ein bisschen in deinem Hotelzimmer ausgeflippt, sobald du die Musik aufgedreht hast, ich habe deinen Koffer packen dürfen, wir haben uns gegenseitig Plätze gezeigt, die eine Bedeutung für uns haben. Wir haben einen Teil vom Leben des anderen kennengelernt und ich bin dankbar dafür. Umso beschissener ist es, wenn ich daran denke, dass du..."
Ihre Stimme brach ab, ich ahnte, dass gleich wieder Schweigen folgen würde, also sprang ich plötzlich auf und zog sie an der Hand auf die Füße.
"Ruby, was machst du da?"
"Wir gehen jetzt shoppen, es ist langweilig, wenn wir die ganze Zeit hier sitzen!"
Grace sah verwirrt aus, nickte aber langsam.
"Perfekt", sagte ich mit einem breiten Lächeln und nahm meinen Kram.
Außerdem willst du, dass sie nicht zu traurig ist, wenn du komplett aus ihrem Leben verschwunden bist...

Hallo Cookies ❤️
Das neue Kapitel ist da und wir gehen langsam aber sicher auf das Ende zu...
Habt ihr denn einen Lieblingsmoment zwischen den beiden in der Story, an den ihr euch erinnern könnt?
Read you next week ;*
Momofelton ❤️

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt