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~Grace~

Hm, der ganze Weg vom Ufer hierher ging doch schneller als ich dachte...
Als ich mich zu Ruby umdrehte, erinnerte sie mich ein ganz kleines bisschen an ein Kätzchen, das verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Naja, ich konnte es ihr auch nicht verübeln. Auf der einen Seite war der Gehweg, auf dem wir gerade liefen, nicht der Beste, um damit mit einem Koffer aufzutauchen, es rumpelte ganz schön. Auf der anderen Seite hatte sie mir vor ein paar Minuten von einem, für sie wirklich schmerzhaften, Verlust erzählt. Deshalb war ich wahrscheinlich umso glücklicher, dass sie sich entschieden hatte, mit zu mir zu kommen. Ich hätte sie unmöglich an diesem Ufer lassen können, denn auch wenn sie es vermutlich bestreiten würde, ich wusste, dass sie an diesem Ort wahnsinnig mit sich zu kämpfen hatte.
"Du wohnst ziemlich weit vom Schuss", sagte sie gerade, als sie versuchte das Rädchen ihres Koffers aus einem kleinen Schlagloch zu befreien, die hier immer mal wieder zu finden waren.
"Wenn ich ehrlich bin, hat die Lage mich nie gestört, ich bin unglaublich froh darüber, dass Jaz und Jeremy meine Mitbewohnis geworden sind, sie machen mir meinen Alltag deutlich einfacher. Ich gehe fest davon aus, dass du sie mögen wirst. Aber ich warne dich trotzdem vor, denn beide können manchmal ziemlich aufgedreht sein, vor allem dann, wenn sie jemand Neues kennenlernen. Aber wenn du dich nicht wohl fühlst, müssen wir auch ni-"
Ihre blauen Augen durchbohrten mich förmlich und ihre erhobenen Brauen machten es nicht besser.
"Ist ja schon gut, ich halte die Klappe."
Ruby legte den Kopf schief und schloss dann zu mir auf, da sie das kleine Rädchen nun endlich hatte befreien können.
"Ich möchte doch gar nicht, dass du die Klappe hältst, du sollst nur nicht immer auf das achten, was ich vielleicht wollen könnte. Ist mir etwas unangenehm, sage ich es dir. Ich freue mich darauf, noch mehr Menschen kennenzulernen, die dir wichtig sind. Außerdem ist es schön, mal diejenige zu sein, die mit in die Wohnung einer Lady gebracht wird, sonst ist es immer umgekehrt."
Beim letzten Satz grinste sie so dreckig, dass ich nicht drum herum kam, mir vorzustellen, wie sie sonst wen und ihre Wohnung brachte um sonst was zu tun. Ich musste heftig den Kopf schütteln, um die Gedanken von Ruby in Unterwäsche zu vertreiben.
"Was ist? Hast du Wasser im Ohr?"
Ihre funkelnden Augen verrieten mir, dass sie ganz genau wusste, in welche Richtung meine Gedanken gewandert waren. Ich verdrehte nur die Augen und schubste sie an der Schulter ein wenig zur Seite, woraufhin sie lachen musste. Allerdings verstummte ihr Lachen einen Moment später, als wir einen kleinen Hinterhof passierten, der nicht weit von meiner Wohnung entfernt gewesen war. Sie schien ein wenig angespannt zu sein, kniff kurz die Augen zu und schüttelte mit dem Kopf, als wäre sie nun diejenige, die versuchte, Gedanken zu vertreiben.
"Ruby? Ist alles in Ordnung?"
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun wieder auf mich und sie lächelte.
"Es ist alles okay. Ist es noch weit?"
Ich sagte ihr nicht, dass ich ihre vor Angst geweiteten Pupillen genau gesehen hatte, denn sie hatte mir schon so unglaublich viel anvertraut, ich wollte sie nicht noch mehr fertigmachen. Trotzdem muss ich zugeben, dass mich ihr Verhalten bis heute ein wenig überrascht hatte. Ihr schien es trotz allem gut zu gehen, obwohl sie mir gerade erst etwas von sich offenbart hatte, was sie vermutlich nie auch nur im Geringsten gemacht hätte, wäre ihr nicht die richtige Person begegnet. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich die Richtige für sie war, ich meine, wie konnte ich richtig für sie sein? Ich ... Ach, ihr wisst was ich sagen will.
"Nur noch ein paar Minuten die Straße runter und dann sind wir auch schon da. Soll ich Jaz sagen, dass sie die Snacks rausstellen soll? Naja, mit Snacks meine ich gesalzene Erdnüsse und solchen Knabberkram."
"Noch nicht, aber danke."
Sie lächelte wieder so breit, als wäre sie einige Meter zuvor nicht angespannt gewesen. Natürlich wollte ich wissen, was hinter diesem plötzlichen Wechsel steckte, aber gleichzeitig konnte und wollte ich nicht noch mehr von ihr verlangen. Stattdessen wollte ich dafür sorgen, dass sie lachen musste und sich gut fühlte. Ein Teil von mir wollte sogar, dass sie mich nicht so schnell vergessen würde, auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst wahrgenommen hatte.
"Ruby, gib mir bitte dein Board."
Sie sah für einen Moment verwirrt aus, zögerte aber kaum und gab es mir anschließend. Ich muss euch wohl nicht sagen, dass ich vorher noch nie auf so einem Ding gefahren war und Ruby checkte es ziemlich schnell, denn sie machte dieses typische Geräusch, wenn man versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.
"Wann bist du das letzte Mal mit einem Skateboard gefahren, Grace?"
Ich musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie sich über mich lustig machte.
"Ähm...", fing ich an, wobei mir augenblicklich die Röte ins Gesicht schoss.
"So wie es sich anhört, ist es wohl schon eine Weile her."
"Okay, ich bin noch nie gefahren. Mach dich ruhig über mich lustig, ist wahrscheinlich angemessen."
Plötzlich stellte Ruby ihren Koffer an die nächstgelegene Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste mich an.
"Soll ich dir vielleicht helfen? Oder möchtest du es noch allein probieren?"
Ihre Augen glänzten amüsiert und obwohl ich ganz genau wusste, dass sie Spaß auf meine Kosten hatte, doch  störte es mich kein bisschen, im Gegenteil. Sie lächeln zu sehen brachte auch mich zum lächeln und was wollte man mehr?
"Es kommt drauf an, ob du mir helfen willst oder ob du weiterhin nur da rum stehen möchtest, um dich darüber lustig zu machen wie eine vollkommen unerfahrene Person auf deinem Skateboard steht. Eine Person, die versucht sich nicht vollständig zur Idiotin zu machen."
Sie drückte sich mit einer lässigen Bewegung von der Wand ab und verdammt, sie war höllisch attraktiv. Ich musste für einen Moment aufpassen, dass mir der Mund nicht offen stehen blieb.
Du leidest unter Schlafmangel, kein Wunder, dass du am Rad drehst!
"Heißt das jetzt, dass ich dir helfen soll?"
Ich bin mir sicher, dass sie es bis heute bestreiten würde, doch sie hatte gewusst wie verrückt sie mich in diesem Moment machte, als sie sich auf die Unterlippe biss.
"Wenn du nichts Besseres zu tun hast?"
Glaubt mir, es war mir in diesem Moment überhaupt nicht leicht gefallen, die Fassung zu bewahren, doch diesen Sieg würde ich ihr nicht gönnen. Sie wusste, dass sie eine Wirkung auf mich hatte, doch ich sah es nicht ein, ihr das so offensichtlich zu zeigen.
Ruby kam näher und hatte dieses bestimmte Lächeln auf den Lippen, in diesem Moment verstand ich, weshalb es ihr mit absoluter Sicherheit leicht fiel, Frauen rum zu bekommen. Denn verflucht noch eins, sie sah mit dieser simplen Jeans, dem Cap, dem weißen T-Shirt mit der schwarzen Lederjacke darüber einfach zum Anbeißen aus. Ihre Tattoos setzten dem Ganzen noch die Kirsche oben drauf.
Jetzt krieg dich ein, du bist keine 15 mehr!
Ich räusperte mich und versuchte erneut einen klaren Kopf zu bekommen, was sie mir unglaublich schwer machte.
"Ich würde nicht sagen, dass ich etwas Besseres zu tun habe. Ich verbringe gern meine Zeit mit dir und mache mich darüber lustig, dass du offensichtlich noch nie auf einem Skateboard gestanden hast. Obwohl ich zugeben muss, das ist ja schon irgendwie süß ist. Bist du denn wirklich noch kein einziges Mal gefahren?"
Ich schüttelte nur mit dem Kopf.
"Na gut, wenn das so ist, dann muss das geändert werden."
Ruby kam noch ein bisschen näher und ich konnte nicht anders als auf ihre Lippen zu starren.
Meine Güte, reiß dich zusammen!
Sie war mir so nah, dass ich erneut von dem Duft aus Apfel und ein wenig Zigarettenrauch umhüllt wurde. Ich bemerkte, wie sich ihr Blick zwischen meinen Augen und Lippen bewegte.
Liebe Person im Himmel, ich flehe dich an, bitte, uns darf jetzt einfach nichts unterbrechen!
Ich konnte ihre Lippen bereits förmlich auf meinen spüren und schloss die Augen...
Doch genau in dieser Sekunde ertönte der beschissene Klingelton meines Handys.
Ich würde noch jemanden umbringen!

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt