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"Bist du dir sicher, dass das nicht vollkommen bescheuert aussieht? Ich meine, ich sehe aus, als würde ich sonst wohin wollen."
Grace grinste nur und schüttelte mit dem Kopf, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich überhaupt nicht ernst zu nehmen schien.
"Wundert dich das? Immerhin würden die Leute mit ihrer Vermutung nicht falsch liegen, du fliegst ja heute Abend wieder nach New York City zurück, also willst du im Endeffekt ja sonst wohin."
Ich seufzte nur und zog meinen Koffer weiterhin hinter mir her, wobei ich mir eingebildet hatte, dass mich der ganze Campus anstarrte. Natürlich war es nicht so, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen, also wehe ihr erzählt es ihr. Mein Board trug ich unter dem anderen Arm.
"Bist du dir sicher, dass ich das nicht mal nehmen soll? Wenn du ziehst das jetzt schon eine ganze Weile hinter dir her. Immerhin glauben sie dann, dass ich irgendwo hin will, vielleicht fühlst du dich danach weniger bescheuert."
Wieder einmal wurde mir bewusst, dass Grace sich, je länger wir auf dem Campus unterwegs waren, umso sicherer fühlte. Eigentlich war sie am Anfang unserer gemeinsamen Zeit diejenige, die meine Körpersprache genaustens zu analysieren wusste, mittlerweile hatte sich das Blatt gewendet, denn ich hatte innerhalb der letzten Stunden mehr und mehr gelernt, auf was ich bei ihr achten musste. Je wohler sie sich fühlte, desto geschmeidiger wurden ihre Schritte. Setzten wir uns irgendwo hin, saß sie weniger aufrecht, je entspannter sie wurde. Doch ihr Körper war nicht der einzige, der sie verriet. Es war die Art wie sie mit mir sprach, welche Wörter sie verwendete, was sie mir erzählte. Innerhalb der letzten Stunden waren wir von einem oberflächlichen Gespräch an der Bar zu Themen gekommen, die uns hinter die jeweiligen Fassaden des anderen blicken ließen, naja, zumindest meistens. Hätte mir jemand gesagt, was ich bald tun würde, hätte ich diese Person sicherlich für verrückt erklärt.
"Weißt du, das ist wahrscheinlich gar keine schlechte Idee. Du übernimmst meinen Koffer jetzt, immerhin hast du ihn ja netterweise für mich gepackt."
Ich ließ ihn los und verschränkte die Arme vor meiner Brust, Grace jedoch grinste nur noch breiter und schnappte sich meinen Koffer.
"Sei froh, dass ich ihn dir gepackt habe, sonst hättest du ihn nie im Leben zubekommen, das kannst du mir glauben. Jetzt tu nicht so cool und komm mit."
Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und zog den Koffer hinter sich her.
Oh ja, sie fühlt sich wirklich viel wohler hier und vielleicht hat das auch ein bisschen was mit dir zu tun, Langenheim. Möglicherweise ein ganz kleines bisschen.
Ich sah mich mit großen Augen um, sicherlich wurde vielen Leuten, die an uns vorbeiliefen, schnell klar, dass ich zum ersten Mal auf dem Campus war. So einen Abschnitt hatte es in meinem Leben wirklich nicht gegeben.
"Wie zur Hölle findest du dich hier zurecht? Das ist ja ein einziges Labyrinth!"
Sie drehte sich zu mir um und lächelte mit einem Schulterzucken.
"Ich bin bald drei Jahre hier, man gewöhnt sich dran. Außerdem ist das hier nur der Hauptcampus, es gibt noch weitere Standorte, die ich aber nur ganz selten aufsuchen muss. Komm, ich zeige dir meinen Lieblingsort."
Sie nahm so selbstverständlich meine Hand und verschränkte unsere Finger miteinander, dass ich nicht anders konnte, als wie eine Idiotin zu grinsen. Grace zog mich an einigen Gebäuden vorbei, die ich flüchtig betrachten konnte. Es war eine Mischung aus modernen und alten architektonischen Meisterwerken, die dem Campus seinen typischen englischen Charme verliehen. Einige Zeit später standen wir vor einem weiteren Gebäude und sie ließ meine Hand los.
"Hier sitze ich ganz oft, wenn ich an Hausarbeiten schreibe oder ellenlange Texte lesen muss. Irgendwie habe ich das Gefühl, mich besser konzentrieren zu können, wenn ich nicht zu Hause arbeiten muss. Willst du es sehen? Aber sag mir, wenn es dir zu langweilig ist."
Grace mied meinen Blick für einen Moment, bevor ich einen Schritt näher trat.
"Ich würde es sehr gern sehen, führ mich rum."
Ihr Gesicht hellte sich augenblicklich auf.
"Gut dann rein mit uns."

Einen Moment später standen wir in einer riesigen Eingangshalle und ich bekam den Mund vor Staunen kaum geschlossen. Die Bücherregale erschreckten sich beinah bis zur Decke und verflucht nochmal, wie konnte sich hier nur jemand zurecht finden?
"Beeindruckend, nicht wahr? Du reagierst genau wie ich, als ich zum ersten Mal hier war. Irgendwie ist es schön, dass die alte Dame ihren Charme noch nicht verloren hat. Manchmal lehne ich mich gegen eines der unzähligen Regale und schaue mich einfach nur um. Manchmal kommt August, einer der Bibliothekaren, vorbei und schnippst vor meinem Gesicht herum, sodass ich wieder aus meiner Traumwelt herauskomme, dabei weiß ich noch nicht einmal, wonach ich darin genau suche."
Ich riss mich von den Regalen los, um sie anzusehen. Ihre grünen Augen musterten mich aufmerksam und aus einem Grund kam ich mir mit meinem Koffer und meinem Skateboard unter dem Arm ziemlich Fehl am Platz vor. Ich ließ meinen Blick erneut durch die Eingangshalle schweifen, dieses Mal blieb ich allerdings an den Personen hängen, die sich hier drin befanden. Versteht mich bitte nicht falsch, ich meinte das wirklich nicht böse, aber mein Gott, jede Person, die sich in meinem Blickfeld befand, sah irgendwie gleich aus. Mir fiel allein vom Äußeren her nichts auf, was meine Aufmerksamkeit in irgendeiner Art und Weise erregte. Klar, es sollte mich nicht interessieren und ich hatte nicht das Recht, irgendjemanden auch nur ansatzweise zu verurteilen und trotzdem war ich verwirrt.
"Ruby? Was ist los?"
Grace berührte sanft meinen Arm und ich konnte meinen eigenen Gedanken endlich entkommen.
"Ich weiß es gar nicht so richtig, wenn ich ehrlich bin. Wahrscheinlich stelle ich gerade fest, dass die Welt der Universität rein gar nichts für mich wäre."
Wieder sah ich mich ein wenig nervös um.
Ruby, verdammt, jetzt komm runter, es ist bescheuert, das ist nur eine Uni!
"Hey, sieh mich an", sagte Grace sanft und brachte mich dazu, dass ich sie ansehen musste, da sie mein Gesicht mit ihren Händen umschloss.
"Du fühlst dich vom ersten Eindruck her so, als gehörst du hier nicht her, kann das sein?"
"Wo-Woher weißt du das?"
Grace schüttelte den Kopf, nahm meine Hand und zog mich samt meinem Koffer und meinem Skateboard, was sie freundlicherweise genommen hatte, mit sich.

"Wo sind wir?"
Grace hatte mich viele Gänge entlang gebracht, viele Kurven, viele Treppen und ich könnte nicht sagen, ob ich ohne Hilfe wieder herausfinden würde. Natürlich wurden wir wegen meines Gepäcks ziemlich komisch angesehen, doch das schien sie keineswegs zu stören. Zwar war ich an Blicke gewöhnt, doch irgendwie hatte ich sie nicht ganz ignorieren können. Nun standen wir, wer hätte es gedacht, vor einem riesigen Regal.
"Hier bin ich vor allem am Anfang meines Studiums hergekommen, wenn ich das Gefühl hatte, ich passe nicht rein. Du hast so geschaut wie ich damals. Nachdem ich hier war, ging es mir immer besser."
Ich hob die Augenbrauen.
"Du bist hierher gekommen? Aber warum genau hierher? Hier ist doch kaum jemand."
Sie schob sich eine ihrer roten Haarsträhnen aus dem Gesicht.
"Das ist der Punkt, Ruby. Manchmal ist man nur von wenigen Personen umgeben, aber wenn man ganz viel Glück hat, dann sind es die Menschen, die einen dazugehörig fühlen lassen. Verstehst du, was ich damit sagen will? Du bist diejenige gewesen, die mir vor ein paar Stunden gesagt hat, dass man einen Fick drauf geben sollte, was andere Leute von einem denken, erinnerst du dich? Rubs, wenn eine Person weiß, wie verdammt schwierig es ist, dann ich.  Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie du dich gerade fühlen musst. Jeder Mensch, der dir auf den ersten Blick begegnet, unterscheidet sich in manchen Fällen so sehr von dir, dass du dir vorkommst, als seist du die große Ausnahme der Regel. Vor allem dann, wenn du dich umsiehst und es scheint, als wärst du der einzige bunte Punkt in einer undefinierbaren grauen Masse. Und dann gibt es diese Momente, in denen du dich verdammt allein fühlst, dich umsiehst und dich fragst, wieso alles und jeder glücklicher scheint als du. Doch weißt du was? Irgendwann wirst du andere Punkte treffen, die so bunt sind, dass du dich weniger allein und oder überfordert fühlst. Es müssen nicht viele Punkte sein, Hauptsache, sie geben dir das Gefühl, dass du in ihrer Gegenwart so bunt sein darfst wie du es möchtest. Tonya beispielsweise war solch ein bunter Punkt für mich und ich könnte nicht glücklicher darüber sein. Ich habe nicht viele Leute, die mich verstehen, aber sie könnten keine besseren bunten Punkte für mich sein. Weißt du, warum ich ausgerechnet immer hierher gekommen bin? Sieh dir die Verfasser dieser Bücher an."
Grace fuhr mit den Fingern über die Bücher und trat ein Stückchen zur Seite. Ich kam näher an das Regal heran, um mir die Buchrücken anzusehen.
"Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Walt Whitman, oh, hier unten Virginia Woolf... Was haben die alle mit mir zu tun?"
"Ganz einfach", sagte sie und nahm meine Hand, "diese Menschen waren ganz viele bunte Punkte, die zu ihrer Zeit nicht in die graue Masse passten, von der sie umgeben waren. Als ich hier anfing, habe ich mich in dieser Ecke der Bibliothek am wenigsten allein gefühlt. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu lernen, dass es leichter ist, ein bunter Punkt zu sein, anstatt dass man versucht, sich der grauen Masse anzupassen, aus der man so oder so eines Tages ausbrechen wird. Ich lerne mit jedem Tag mehr und mehr, das hilft mir dabei, zu verstehen, dass es keineswegs schlimm ist, sich vom Mainstream abzuheben, auch wenn es schwer ist. Ob du es glaubst oder nicht, aber dass ich dich in dieser Bar getroffen habe, hat mich einen sehr großen Schritt weiter gebracht."
Ich hob meinen Kopf und sah ihr tief in die Augen. Keine Ahnung, wie lange wir dort gestanden hatten, bis ich endlich im Stande war, etwas zu sagen.
"Wir müssen los..."
Grace war offensichtlich überrascht.
"Was? Wohin?"
Ein schon fast trauriges Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
"Ich möchte dir zeigen, bei welchem Schritt du mir geholfen hast."

Hallo Cookies ❤️
Hier ist ein neues Kapitel für euch, was sagt ihr dazu? :)
Ich hoffe, dass es euch gefallen hat.
Read you next time ;*
Momofelton ❤️

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt