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~Grace~

Gleich würde sie gehen und ich konnte nichts daran ändern. Innerhalb der nächsten paar Minuten würde sie nach New York City verschwinden und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass ich sie nie wiedersehen würde. Die Frau, die mir innerhalb eines nicht ganzen Tages klar gemacht hatte, dass ich mich nicht schlecht fühlen musste, weil ich in der Definition von Großteilen der Gesellschaft als anders wahrgenommen wurde. Die Frau, neben der ich mich in einer Bar niedergelassen hatte und auch nicht nur ansatzweise damit rechnete, dass sie mir sonderlich viel Beachtung schenken würde. Mit dieser Frau war ich durch die Nacht gerannt und hatte eine unvergessliche Zeit gehabt. Mit dieser Frau war ich im Stande gewesen all den Stress um mich herum loszulassen und frei zu sein. Die Frau hatte mir zugehört und mir das Gefühl gegeben, dass das, was ich sagte, wichtig war. Sie hatte mir das Gefühl gegeben, dass ich es wert war. Ruby war die Frau, die mich vor wenigen Stunden geküsst hatte...
Nun trottete ich schon fast hinter ihr her und konnte das, was gleich geschah, nicht mehr ignorieren. Ruby würde die Stadt verlassen und ich würde hierbleiben, nach Hause fahren, die Zeit mit meinen Freunden verbringen, zur Uni gehen und mein Leben normal weiterleben. Doch das Leben, wie ich es vor 24 Stunden noch geführt hatte, gab es dank ihr nicht mehr. Ich wusste noch nicht einmal, was mich da so sicher machte, aber es war einfach so. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen.
"Ruby?"
Sie blieb stehen und drehte sich um.
"Ja? Was ist los? Geht es dir nicht gut?"
"Bitte gib mir dein Handy. Ich möchte einen Song speichern, den du dir anhören kannst, wenn du an die letzten Stunden zurückdenkst. Bitte. Ich verlange nicht viel, ich möchte nur diesen Song einspeichern."
Ruby sah für einen Moment verwirrt aus, nickte dann aber, kam zu mir und gab mir ihr Handy, das sie kurz zuvor entsperrt hatte.
"Danke."
Ich öffnete Spotify und tippte einen Moment auf dem Display herum, bis ich es ihr anschließend wiedergab.
"Der Song ist jetzt in deinen Favoriten, er ist automatisch ganz oben, da ich ihn gerade erst hinzugefügt habe... Da du diese Playlist heruntergeladen hast, müsste der Song auch gleich offline zu hören sein.
Sie lächelte, steckte ihr Handy wieder in ihre Hosentasche, legte den Koffer plötzlich auf den Boden, hockte sich daneben und öffnete ihn, um kurz danach ihre Kopfhörer hervorzuholen, die ich beim Packen überhaupt nicht bemerkt hatte. Vermutlich waren sie in einer Seitentasche gelagert, da, wo sie auch ihren Laptop verstaut hatte, kurz bevor wir das Hotel verließen.
Mittlerweile konnte ich den Terminal sehen und alles in mir sträubte sich dagegen weiterzugehen, aber ich hatte keine verdammte Wahl. Sie würde nicht bleiben. Sie würde in dieses verdammte Flugzeug steigen und den Kontinent verlassen. Ich war so Gedanken versunken, dass ich fast in sie hineingelaufen wäre. Ruby war stehengeblieben und hatte sich mit einem Lächeln zu mir umgedreht und ich bildete mir ein, dass es schon fast ein trauriges Lächeln war.
Verfickt nochmal, du weißt, was jetzt kommt...

Die Schlange am Terminal hatte zwar abgenommen, aber noch immer tummelten sich einige Leute drum herum, was hieß, dass Ruby sich nun wirklich beeilen musste, wenn sie ihren Flug noch erwischen wollte. Da stand sie vor mir und lächelte mich an, der Koffer befand sich neben ihr, ihr Skateboard dagegen gelehnt. Sie hatte die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben und ich spielte nervös mit meinen Fingern herum.
Das geht nicht, sie kann nicht gehen...
"Tja, ich denke, dass ich dir nicht sagen muss, wie viel Spaß es mir mit dir gemacht hat. Ich hätte meinen letzten Tag in London nicht besser verbringen können. Wirklich, ich meine das ernst. Es ist so viel seit gestern Abend passiert, ich werde das und natürlich dich nicht so schnell vergessen, wenn überhaupt. Ich hoffe, dass es dir ähnlich geht, wenn nicht, dann muss ich damit leben. Danke. Danke für alles. Ich dachte, dass mein Trip hierher aufgrund meiner Vergangenheit in dieser Stadt der absolute Horror werden würde, aber dank dir war er es nicht komplett. Ich... Ich möchte nur, dass du weißt, dass du der reine Wahnsinn bist und jeder, der damit ein Problem hat oder es anders sieht, ist deiner nicht wert und kann auf der Stelle verschwinden. Du hast es nicht nötig, dich mit Menschen abzugeben, die nicht verstehen, dass du verdammt nochmal der Wahnsinn bist. Nichts drunter, aber der Wahnsinn. Hast du das verstanden?"
Ich nickte und biss mir auf die Lippe, um zu verhindern, dass ich weinen musste.
"Ich habe es verstanden... Ich werde es versuchen, das verspreche ich dir.
Du kannst mir glauben, ich werde dich nicht so einfach aus dem Kopf bekommen, das wird einige Zeit dauern... Ich..."
Dann kamen sie doch, diese verfluchten Tränen. Ich hätte niemals gedacht, dass ein paar wenige Stunden reichen würden, um mich so emotional werden zu lassen.
"Hey, ist schon gut..."
Ich hörte ihr an, dass sie ein wenig überfordert war, trotzdem zog sie mich zu sich und schlang die Arme um meinen Körper. Ich wurde wieder von dem Duft aus Apfel und Zigarettenrauch gehüllt, was die Tränen noch mehr fließen ließ.
"Ich will nicht, dass du gehst", brachte ich hervor und vergrub mein Gesicht an ihrer Halsbeuge.
Sie umarmte mich nur noch fester.
"Ich weiß, dass du das nicht willst, aber ich will und muss wieder nach Hause."
Ich atmete noch einmal ihren Duft ein und löste mich dann ihr. Die blauen Augen sahen entschuldigend, wenn nicht sogar besorgt drein. Ich musste leicht lächeln und prägte mir vor allem ihr Gesicht genau ein.
"Ich muss los", sagte sie leise und mir drohte das Herz aus der Brust zu springen, als ich den Zettel aus meiner Hosentasche hervor zog und ihn ihr hinhielt.
"Versprich mir, dass du es erst im Flugzeug liest, okay? Bitte gib mir dein Wort, dass du diesen Zettel erst entfaltest, wenn sich das Flugzeug in Bewegung setzt. Bitte..."
Ruby blickte den Zettel an, dann mich und sie nickte.
"Du hast mein Wort. Ich werde diesen Zettel erst entfalten, wenn sich das Flugzeug in Bewegung gesetzt hat."
Sie sah mir noch einmal in die Augen und wollte schon ihre Sachen nehmen als ich sie plötzlich zu mir zog und meine Arme um ihren Hals schlang.
"Vergiss mich nicht so schnell..."
Nun war ich diejenige, die unsere Lippen zusammenbrachte. Überraschung durchfuhr mich als ich ihre Hände an meiner Taille spürte und mich näher zu sich zog. Ihre Lippen waren weich und schmeckten irgendwie gut. Ihre Hände waren warm und mich durchströmte ein wundervolles Gefühl.
Meinetwegen hätten wir noch lange hier stehen können, aber leider war das nicht möglich, was auch Ruby wusste, denn sie löste sich langsam von mir.
"Mach's gut, Grace Wilson..."
Im nächsten Moment entfernte sie sich von mir und mit ihr verschwand auch die Wärme, die mich noch bis eben erfüllt hatte.
Ich sah ihr nach, musste lächeln, auch wenn die Tränen unaufhörlich über meine Wangen liefen. Ich sah ihr dabei zu, wie sie am Terminal stand, ihr Ticket, ihren Ausweis und ihren Pass vorzeigte. Sie drehte sich noch einmal zu mir um, winkte und grinste. Es war dasselbe Grinsen, mit dem sie mich gestern Abend in der Bar gemustert hatte. Ich beobachte, wie sie kurz mit dem Mitarbeiter sprach, ihr Board und ihren Koffer aufs Band legte, sich in Bewegung setzte. Und dann, dann war sie weg.

Keine Ahnung, wie lange ich noch auf die Stelle gestarrt hatte, wo sie verschwunden war. Ein Teil von mir hoffte noch immer, dass sie zurück käme, auch wenn ich wusste, dass das nicht der Fall sein würde.
Meine Hand glitt in meine andere Hosentasche und nahm mein Handy hervor, mit dem ich Jaz anrief.
"Hey Grace!"
"Sie ist weg", sagte ich und bemerkte erst jetzt wie belegt meine Stimme war.
"Fuck. Geht es dir gut?"
Ich lächelte unter Tränen.
"Ja, ich denke schon. Ich werde mir ein Taxi nehmen und komme nach Hause."
"Natürlich, bis gleich. Ich hab dich lieb, Süße."
"Ich habe dich auch lieb", sagte ich und legte auf.
Meine Beine setzten langsam einen Schritt nach dem anderen, bis ich das Flughafengebäude verlassen hatte.
Jetzt wusste ich, worüber ich meinen Aufsatz schreiben würde...

Ein Kapitel wird es noch geben, Cookies, dann war's das... ❤️

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