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~Grace~ 

"Deal", sagte Ruby und ich fing augenblicklich an, noch breiter zu lächeln. Ich musste ehrlich zugeben, dass ich ihr enormes Vertrauen nicht erwartet hätte. Immerhin war ich immer noch eine Fremde, die sie gestern Abend in einer Bar kennengelernt hatte. Ein kleiner Teil meinerseits hatte das Angebot nur als Scherz gemeint, aber gleichzeitig hatte ich auch gehofft, dass sie mir so viel Vertrauen entgegenbringen würde, auch wenn ich nicht hundertprozentig wusste, woher dieser Wunsch kam.
"Mein Koffer ist im Schlafzimmer, ich bezweifle, dass du ihn bemerkt hast, du hast ziemlich fest geschlafen. Ich habe versucht, ihn so leise wie nur möglich vom Bett zu kriegen. Irgendwie kann ich Koffer packen nicht ausstehen, frag mich nicht wieso."
Ich war kurz davor, sie nach dem Grund zu fragen, einfach nur um sie zu ärgern, aber ich verkniff es mir dann doch.
"Na gut, dann kümmere ich mich jetzt mal um dein Gepäck, ich will ja nicht, dass du mit einem unordentlich gepackten Koffer fliegst, dafür bin ich zu perfektionistisch. Sag mir Bescheid, wenn du noch andere Hilfe brauchst." 

Ruby lächelte und die Geschwindigkeit meines Herzschlags nahm ein ganz kleines bisschen zu. Ich hatte noch nie eine Person getroffen, deren Lächeln schöner gewesen ist als das der Frau, die mit ihren unzähligen Tattoos sicherlich viele Blicke auf sich zog und das hatte ich nicht negativ gemeint.
"Ich danke dir echt, dass du mir hilfst, ich bin echt eine Niete, wenn es darum geht, irgendwas vorteilhaft in irgendwelche Taschen zu bekommen."
Dann wandte sie sich ab und trug unser Geschirr nach drinnen. Ich machte mich derweil auf den Weg in ihr Schlafzimmer.
Du hast sie gestern Abend kennengelernt, hast tolle Momente mit ihr verbracht, sie hat dich bei ihr schlafen lassen und sie hat immer noch nicht die Schnauze voll von dir? Wow, diese Frau hat echt Nerven.
Ich schüttelte den Kopf, um meine eigenen Zweifel loszuwerden. Wie sehr mich meine Gedanken manchmal ankotzten. Kaum betrat ich den Raum fiel mir der Koffer auf. Ich musste vorhin noch so verpennt und gleichzeitig so fokussiert auf Rubys Verschwinden gewesen sein, dass ich es überhaupt nicht bemerkt hatte. Ich wusste sofort, was sie damit gemeint hatte, dass Kofferpacken nicht ihr Ding war. Es war alles einfach nur reingeschmissen worden, es gab nicht wirklich eine Ordnung und zusammengelegt wurde nichts. Mich würde es nicht wundern, wenn sie daran scheitern würde, ihre Tasche nur im Geringsten zuzubekommen. Da Ruby nicht den Eindruck gemacht hatte, dass sie es stören würde, wenn ich den Kofferinhalt nochmal komplett auf ihrem Bett verteilte, machte ich kurzen Prozess, tat es und fing sozusagen bei Null an. Mir sprangen unglaublich viele Oversize-Oberteile ins Auge, verschiedene Hosen, Tops und sogar ein Anzug. 
Wofür hat sie den gebraucht? War sie auf irgendeinem Event? Wie lange ist sie überhaupt in der Stadt gewesen? Sie hat ziemlich viele Klamotten dabei...
Die einzige Sache, die irgendwie ein bisschen "sorgfältiger" in den Koffer befördert worden war, war ihre Unterwäsche gewesen. Vermutlich um zu verhindern, dass etwas kaputt ging. Nennt mich oberflächlich und auf Stereotype fixiert, aber ich hatte auf keinen Fall damit gerechnet, dass Ruby so etwas wie Spitzenunterwäsche und Slips besaß. Ich hätte hauptsächlich auf Sport-BHs und boxershortsartige Unterhosen getippt, aber jetzt konnte ich gar nicht anders, als sie mir darin vorzustellen und verflucht nochmal, es musste fantastisch aussehen...
Moment! Hör auf das zu denken, Grace, das geht dich nichts an!
Ich schluckte schwer und nahm auch ihre Unterwäsche aus dem Koffer, damit ich sie neu einsortieren konnte. Mir fiel auf, wie geschmeidig mir der Stoff durch die Finger glitt und ich konnte meinen eigenen Verstand nicht davon abhalten, in Bereiche vorzudringen, die ich eigentlich im Bezug auf Ruby niemals habe denken wollen.
Wie es sich wohl anfühlt, wenn mir der Stoff durch die Finger gleitet, sollte ich jemals in der Situation sein, sie ausziehen zu dürfen? Wie viele Tattoos es wohl noch zu entdecken gibt... Um Gottes Willen, Wilson, halt deine Gedanken in Zaum! 
Oh Leute, ich hatte es wirklich versucht, aber meine Güte, der Fakt, dass wir uns fast geküsst hätten, wurde mir erneut bewusst. Der Moment tauchte vor meinem geistigen Auge auf und verdammt nochmal, was hätte ich jetzt gerade dafür gegeben nochmal in derselben Situation mit ihr zu sein. Einfach nur, damit ich mich davon überzeugen konnte, ob sich ihre Lippen genauso weich und gut anfühlten, wie ich es insgeheim gehofft hatte...
Grace, jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen, das Ganze bringt dir doch eh nichts! Sie fliegt heute wieder nach New York City zurück, zurück nach Amerika! Sobald sie im Flugzeug sitzt, wird sie dich vergessen und keinen Kontakt mehr zu dir haben wollen! Wer kann es ihr verübeln, schließlich bist du mega uninteressant und deshalb wird dich diese besondere Frau sowieso wieder so schnell es geht aus ihrem Gedächtnis streichen!
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sich meine Hand um eines von Rubys Oberteilen zu einer Faust ballte. Wie sehr ich meine Zweifel doch hasste! Aber mal ganz im Ernst, hätte man euch oft das Gefühl gegeben, ihr wärt es nicht wert, dann würdet ihr sicherlich auch noch an Einigem zu knabbern haben!
Doch Ruby... Irgendetwas war anders an ihr... Noch nie hatte mir jemand so zugehört und mir so deutlich das Gefühl gegeben, dass eine Person ehrliches Interesse an dem gehabt hatte, was ich sagte. Ich hatte bis jetzt selten Bekanntschaft mit Personen gemacht, die mir so vorurteilsfrei gegenüber traten und mich noch sympathischer zu finden schienen, weil ich nicht zum Mainstream gehörte. Genau das war es, was mich an ihr faszinierte. Ruby machte den Eindruck, als wäre sie schon durch sehr viel Scheiße in ihrem Leben gegangen und trotzdem hielt sie den Kopf hoch, ließ sich von niemandem was sagen. Eine Eigenschaft, um die ich sie nur beneiden konnte. 
Jetzt hör doch endlich mal auf, hier rum zu heulen, sie hat dir vorhin nicht grundlos all diese Sachen gesagt! Wer dich nicht will oder dich wegen irgendetwas komisch anguckt, hat dann selbst das Problem!
Ich seufzte leise und konzentrierte mich wieder auf Rubys Klamotten. Bevor mich mein Unterbewusstsein erneut daran erinnern konnte, dass ich sie unglaublich attraktiv fand und möglicherweise eine starke Anziehung zwischen uns herrschte, deren Art ich weder benennen konnte noch wollte, hatte ich ihre Unterwäsche ordentlich und platzsparend in ihrem Koffer verstaut. Als ich mir die Menge an Oberteilen und Hosen ansah, kam ich zu dem Schluss, dass Ruby nicht bloß ein paar Tage hatte hier sein können, es sei denn, sie wechselte mehrmals täglich ihr Outfit, doch das konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Ich legte alles erst einmal zur Seite und widmete mich dem Anzug, denn den musste ich irgendwie so klein wie möglich bekommen. Das Design war mit Schwarz doch eher schlicht gehalten worden und ich fragte mich erneut, wo sie gewesen war. Ich ertappte mich erneut dabei, wie ich nach dem Grund suchte, der sie dazu gebracht hatte, in die Stadt zu kommen, die sie offensichtlich nicht leiden konnte. Der Stoff, den ich gerade in den Händen hielt, schien von der Qualität hochwertiger zu sein, dementsprechend war er vermutlich ein wenig teurer gewesen. 
Der Anzug musste einfach fabelhaft an ihr aussehen und wenn sie dann auch so lächelt, wenn ihre Augen noch so strahlen... 
Ich schüttelte den Kopf, doch hatte augenblicklich die Seite von Ruby, die ich vorhin an ihrem provisorischem DJ-Pult sah, vor meinem inneren Auge. Sie sah so unfassbar glücklich aus und es kam mir vor, als hätte sie das, was sie kurz zuvor durchgemacht hatte, vollkommen vergessen. Als hätte es nur sie und die Musik gegeben. Ich bemerkte mein Lächeln kaum, als ich daran dachte, wie sie mich mit leuchtenden Augen nach dem nächsten Songwunsch fragte. Immer und immer wieder hatte sie mir ein Kompliment für meinen Musikgeschmack gemacht, mich ihr wundervolles Lachen hören lassen, wenn sie mich beobachtete. Nennt mich gern verrückt, aber die Stunden, die ich bis jetzt mit ihr verbrachte hatte, hatten mich dazu gebracht, dass ich etwas von mir zeigte, das ich sonst absichtlich zurückhielt. Ich hatte Spaß. Eine Art von Spaß, die mich nicht dazu zwang, Alkohol trinken zu müssen, um mich dazugehörig zu fühlen. Ich zeigte ihr die etwas andere Grace, die, die auch etwas ausgeflippter sein konnte und nicht immer versuchte alles perfektionistisch zu machen. Sie lockte die Grace hervor, die früher fast immer permanent präsent war, bevor man ihr wiederholt sagte, sie solle erwachsen werden und sich endlich von den verträumten Skripten lösen, die angeblich rein gar nichts mit der Realität zu tun hatten. Doch was hättet ihr an meiner Stelle getan, wenn eure Realität größtenteils nur aus Leuten bestanden hatte, die eure Freundlichkeit und Loyalität immer wieder aufs Neue ausnutzten, um euch danach mit einem kleinen Scherbenhaufen eurer Selbst zurückzulassen, der sich im Laufe der Zeit gebildet hatte? Ruby hatte mich innerhalb weniger Stunden davon überzeugt, dass nicht alle mir was Böses oder mich verurteilen wollten. Etwas, wofür Jeremy und Jaz Monate gebraucht hatten. Ich wusste bis heute nicht woran es lag, aber sie hatte mir umso mehr das Gefühl gegeben, dass ich mich für meine Sexualität nicht schämen musste. Versteht mich nicht falsch, der Teil meiner Familie, der es wusste, akzeptierte meine sexuellen und romantischen Präferenzen vollkommen, doch leider hatte ich eher negative Erfahrungen in meinem damaligen Freundeskreis gemacht. Manche hatten nach meinem Outing in meinem letzten Schuljahr so getan, als würde ich nicht existieren, andere waren automatisch davon ausgegangen, ich würde auf sie stehen und hatten sich deshalb zurückgezogen. Ich hatte den Rest des Schuljahres eher allein verbracht und hatte Glück, dass ich meine Abifahrt trotz allem genießen konnte. Wenn ich mit Ruby zusammen war, fühlte ich mich nicht mehr so klein, sie gab mir das Gefühl, dass ich genau so in Ordnung bin, wie ich nun bin und hielt mir sogar die Haare, während ich mich wegen des vielen Alkohols übergeben musste. Ich war mir nach einer langen Zeit wieder unbeschwert vorgekommen, als wir am Fluss entlang liefen. Ich hatte mich endlich mal wohl in meiner Haut gefühlt und hatte mich kein bisschen verstellt. Ich hatte sogar Gitarre vor ihr gespielt und das machte ich sonst immer nur für mich. Ruby lockte die Grace hervor, die ich so lange nicht mehr gesehen hatte. Die Grace, die ich nicht mehr missen wollte. 

Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen hatte ich es geschafft den Anzug einzupacken, ohne dass er Falten bekam. Gerade machte ich mich an ihre Oberteile, als aus dem Durcheinander ein Foto herausfiel. Wirklich, ich hatte nicht gucken wollen, schließlich war es ihre Privatsphäre, doch letztendlich siegte meine Neugier. Das schwarzweiße Bild zeigte eine etwas jüngere Ruby mit einer anderen Frau. Rubs trug eine Cap, genauso wie sie es die letzten Stunden getan hatte. Ihr Lächeln war genauso schön wie jetzt auch. Die Frau, die sie in den Armen hielt, musste Kate sein. Kate, von der Ruby verlassen worden war. Ein Teil von mir wollte wütend auf sie sein, da Ruby durch sie ziemlich gelitten hatte, es beziehungsweise immer noch tat, doch der andere Teil von mir wusste, dass ich Kate nicht kannte und mir deshalb auch kein Urteil erlauben konnte. Außerdem sahen beide verdammt glücklich auf dem Foto aus und ich konnte Ruby wohl keineswegs zum Vorwurf machen, dass sie wegen einer anderen Person glücklich gewesen war. Wenn Kate sie so hatte lächeln lassen, dann konnte sie ja nur ein guter Mensch sein. 
Sei nicht so neugierig, das ist nicht deine Sache.
Ich legte das Bild zwischen eines ihrer Shirts, packte alles in den Koffer und konnte ihn am Ende ohne große Probleme schließen. Wenn sie mir etwas über Kate erzählen wollte, dann würde sie es tun und wenn nicht, dann ging es mich nichts an. 

"Dein Koffer ist gepackt", rief ich und trat ins Wohnzimmer. 
Ruby drehte sich zu mir um und lächelte mich auf diese atemberaubende Weise an, dass mein Herz wieder einen Sprung machte. 
Verdammt, krieg dich in den Griff!
"Danke! Dafür bin ich dir was schuldig!"
Bevor etwas dagegen tun konnte, hatte sie mich in eine doch eher vorsichtige Umarmung gezogen, sodass ich von einem Duft von Apfel und ein wenig Zigarettenrauch umhüllt wurde. Eine ungewöhnliche Kombination, aber perfekt für sie. 
"Du bist mir nichts schuldig", murmelte ich an ihrer Schulter, "du hast mich schon bei dir schlafen lassen und ich habe Frühstück bekommen, mehr brauche und möchte ich nicht." 
"Na gut, dann halt nicht. Ich gehe mal die Sachen holen, wir müssen gleich draußen sein."
Plötzlich spürte ich ihre Lippen auf meiner Wange, doch so schnell wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Ich starrte ihr hinterher und mir wurde bewusst, dass ich die letzten Stunden mit ihr noch in vollen Zügen genießen wollte.

Hallo Cookies! ❤️
Dieses Kapitel habt ihr das erste Mal aus der Sicht von Grace bekommen. Wie fandet ihr es? :)
Ich denke, dass ihr wisst, wie sehr ich an welchen Stellen dieses Kapitels durchgedreht bin ;)
Read you next time ;*
Momofelton ❤️

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