06:00

252 22 4
                                    

Mir war nicht klar gewesen, wie lange ich auf dem Balkon gesessen hatte, doch die nun schon aufgegangene Sonne holte mich zurück in die Gegenwart. Mein Blick glitt zu meinem Schoß hinunter, in dem meine Zigarettenschachtel lag und ich stellte fest, dass ich sie komplett geleert hatte.
Wow, Kate würde dir vermutlich den Hals umdrehen, niemals würdest du mit der Ausrede Stress bei ihr durchkommen, zumindest nicht in dieser Situation.
Ich seufzte und konnte spüren, wie sich meine Muskeln anspannten.
Ich will doch einfach nur, dass es aufhört...
"Nein, reiß dich gefälligst zusammen, Langenheim!", brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Vorhin hatten meine Hände noch gezittert, jetzt gruben sie sich allerdings förmlich in die Armlehnen des Stuhls, auf dem ich saß. Mir war klar, dass ich mich jetzt an einem Punkt befand, dem ich so lange entkommen wollte. Ich hatte wirklich gedacht, ich könnte dem für immer entgehen, doch jetzt, jetzt saß ich hier und versuchte unter allen Umständen nicht die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte mir über Jahre Mauern aufgebaut, die sie hatte niederreißen können, auch wenn es verflucht lange Zeit kostete. Allerdings hatte ich diese Mauern um mich herum innerhalb der letzten zwei Jahre erneut aufgebaut, dieses Mal umso höher.
Das glaubst aber auch wirklich nur du, der Rotschopf bringt dich ziemlich zum Stolpern und du wirst unvorsichtiger, offener. Wir wissen beide, dass das vor guten fünf Jahren schon mal der Fall war.
"Lass mich verfickt nochmal in Ruhe!", schrie ich mitten in den neuen Tag hinein und verschreckte damit sicherlich die Vögel, die die Sonne nur fröhlich begrüßen wollten.
Ich war aufgesprungen und zitterte am ganzen Körper, meine Hände waren zu Fäusten geballt.
"Nur weil du glaubst, dass du dich nach diesen zwei Jahren noch immer über mich lustig machen könntest, dann hast du dich geschnitten! Wenn du tatsächlich der Meinung bist, dass ich ihr nicht standhalten könnte, dann viel Spaß dabei, falsch zu liegen!"
Du bist wirklich ein verfluchter Sturkopf, na gut, ich kenne dich auch kaum anders.
Ich schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen, doch es gelang mir nicht. Ich musste verdammt nochmal hier weg. Es fühlte sich an, als würde mich etwas, oder besser gesagt jemand, erdrücken. Ich drehte mich um, verließ den Balkon, schnappte mir mein Skateboard und flüchtete schon beinahe aus dem Hotel. Ich konnte es nicht ertragen, meinen Gedanken und Erinnerungen noch länger nachzuhängen.
Ich hätte echt nicht erwartet, dass du die Kleine jetzt oben allein lässt, das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Du checkst doch schließlich immer, ob es den Menschen, an denen dir etwas liegt, gut geht und ob du verschwinden kannst, ohne dass du ein schlechtes Gewissen haben musst.
Ich bremste ruckartig ab und war froh, dass sich um diese Uhrzeit noch so gut wie keine Menschenseele auf den Straßen herumtrieb, abgesehen von denen, die gerade vom Feiern zurückkamen, sonst wäre mit absoluter Sicherheit jemand in mich hineingelaufen. Was habe ich mir nur gedacht!
Ich raste noch einmal zurück und betrat das Hotel erneut. Für einen Außenstehenden musste das sicherlich ziemlich bescheuert aussehen, dass ich mich so schnell umentschieden hatte. Doch ich konnte nicht gehen, ohne noch einmal nach ihr zu sehen.
Da es mir zu lange dauern würde, auf den Fahrstuhl zu warten, nahm ich die Treppen und schloss einen Moment später die Tür meines kleinen Apartments auf. Mein Board hatte ich zuvor in der Lobby stehen gelassen, da sowieso noch niemand auf den Beinen war. Außerdem würde es ja sowieso schnell gehen. Leise schlich ich zum Schlafzimmer und hielt mein Ohr gegen die Tür. Gerade war nichts zu hören. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, lag meine Hand auf der Klinke und drückte sie vorsichtig herunter, um ins Zimmer zu treten. Da ich die Vorhänge nicht zugezogen hatte, strahlte das Sonnenlicht hinein und tauchte den Raum somit in ein wundervolles Orange. Grace schien das jedoch kein bisschen zu stören, denn als ich näher kam, entdeckte ich, dass sie tief und fest schlief. Vorsichtig beugte ich mich zu ihr und hoffte inständig, dass ich sie nicht wecken würde, als ich ihr eine ihrer roten Haarsträhnen aus dem Gesicht schob. Sie sah friedlich aus und schien kein bisschen von dem Sturm zu merken, der gerade in mir tobte. Ihre Gesichtszüge waren entspannt und sie wirkte in diesem Moment umso mehr so, als könnte sie gerade keiner Fliege etwas zuleide tun.
"Es tut mir leid, wirklich... Wenn ich könnte, würde ich es dir ja erklären, Grace, aber ich glaube, das würde die Dinge nur noch komplizierter machen..."
Ohne zu zögern, kam ich noch etwas näher und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe. Bis heute wusste ich nicht, weshalb ich es getan hatte.
Jetzt sag mir nochmal, dass diese Frau deine Mauern nicht zum Einstürzen bringt. Du lügst dich doch nur selbst an.
Wieder richtete ich mich blitzartig auf, knirschte mit den Zähnen und verschwand aus dem Schlafzimmer, um mich dann auf die Straßen der noch immer schlafenden Stadt zu begeben.

24 HOURSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt