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Ich sah noch einmal auf die geschlossene Tür, doch egal wie sehr ich es versuchte, ich konnte meine Gedanken einfach nicht beruhigen. Ich hätte mit allem gerechnet, doch garantiert nicht damit, dass Grace ausgerechnet ihren Song spielen würde. Ich meine, klar, natürlich hatte der Rotschopf niemals wissen können, was sie damit anrichtete, aber verdammt...
Ich scheiterte daran, meine zitternden Hände zu beruhigen und drohte zusammenzubrechen, doch das konnte ich nicht zulassen, nicht jetzt, nicht hier, wo Grace in der Nähe war. 
Ich konnte sie hören, wie sie sich über mich lustig machte und ich konnte nicht verhindern, dass ich taumelte und fast über meine eigenen Füße stolperte.
"Du findest es lustig, mich noch immer fertig zu machen, nicht wahr?", zischte ich und schnappte mir meine Lederjacke, um wieder auf den Balkon zu verschwinden. Wäre Grace nicht hier gewesen, wäre ich definitiv aus diesem verfickten Zimmer verschwunden und hätte mich bis sonst wann auf Londons Straßen aufgehalten. Doch nun saß ich auf einem der Stühle, zündete mir eine Zigarette an und starrte in die Nacht hinein, während meine Gedanken immer mehr und mehr in Bereiche meines Lebens drangen, die ich eigentlich vermeiden wollte. 

"Ruby! Nein, du wirst jetzt nicht einfach wieder verschwinden! Das machst du in so einer Situation ständig!"
Ich drehte mich um und hatte mein Skateboard bereits in den Händen.
"Warum sollte ich jetzt hierbleiben, Mom?! Ich habe es verdammt nochmal satt, mich verstecken zu müssen! Ich wollte nur, dass ihr mir ein einziges Mal zur Seite steht! Ich habe erwartet, dass ihr einmal das Wort gegen Tanja erhebt! Wisst ihr wieso? Weil deine ach so tolle Schwester, Dad, gesagt hat, dass man Homosexuelle in Therapie schicken sollte, da sie schwer krank sind! Rafft ihr es nicht? Eure eigene Tochter ist nicht straight! Und das wisst ihr seit acht verdammten Jahren!"
"Natürlich wissen wir das Schätzchen, aber-"
"Aber was?! Seid ihr so verfickt oberflächlich, dass ihr nicht mal für mich gerade stehen könnt?!"
"Ruby Rose, rede ja respektvoll mit deiner Mutter!"
Ich schnaubte und nahm mir meine schwarze Cap. 
"Warum sollte ich respektvoll mit jemanden umgehen, der mich nicht so respektieren geschweige denn akzeptieren kann, wie ich bin? Spar es dir, Dad!"
Daraufhin nahm ich mir meine Zigaretten von der Kommode und verschwand durch die offene Tür nach draußen. Sollten sie sich das Maul über mich zerreißen und sich darüber beklagen, ich wäre eine schlechte Tochter!
Was passiert war? Oh, ich sag's euch!
Ich war vor ein paar Stunden auf einem Geburtstag meiner Tante gewesen. Meiner sehr homophoben Tante mit der veralteten Einstellung. Als wir dann irgendwann auf das Thema Homosexualität kamen, hatte sie etwas von sich gegeben, dass meine Sicherungen zum Durchbrennen brachte. Menschen, die gleichgeschlechtlich liebten oder generell queer unterwegs waren, sollten in Therapie und sich behandeln lassen, damit sie von dieser Krankheit geheilt werden würden! 
Bei dem Gedanken daran stieß ich mich nur noch stärker vom Boden ab, um zu beschleunigen.
Ich hatte bis zum heutigen Tag nicht offiziell ausgesprochen, dass ich auf Frauen stand, doch nach ihrem Kommentar hatte ich keinen Bock mehr auf das ewige Versteckspiel und schrie sie nur an, dass man mich auch in Therapie geben und ich nun verschwinden müsse, nicht dass sie sich noch anstecke. Damit war die Katze wohl aus dem Sack. 
Ich hatte wirklich kein Problem damit gehabt, mich mit dieser Frau anzulegen, aber es traf mich, dass meine Eltern kein einziges Wort für meine Verteidigung verloren hatten. Als ob ich jemals steuern oder bestimmen könnte, zu welchem Geschlecht ich mich hingezogen fühlte!
Ich weiß, was ihr jetzt denkt. 
Sie ist mittlerweile zwanzig Jahre alt, warum hängt sie dann immer noch bei ihren Eltern herum, wenn sie doch so abgefuckt von allem ist?
Ganz einfach, ich kann es mir noch nicht leisten, auszuziehen und meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Denn selbst wenn ich in dieser verfluchten Stadt leben wollen würde, dann könnte ich kaum eine Wohnung bezahlen und wenn, dann müsste ich vermutlich auf solche Dinge wie Nahrung und Hygiene verzichten. Mal ehrlich, wer wollte das schon? 
Ich musste mittlerweile nicht mehr drauf achten, wohin ich fuhr, denn ich konnte den Weg im Schlaf. Noch ein paar Minuten und ich würde da sein. Gerade befand ich mich in einer kleinen Passage voller Geschäfte als ich plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm. 
"So ein verdammter Mist, so bekomme ich meinen Einkauf doch nie weg!"
Ich bremste schlitternd ab und drehte mich um. Nachdem ich meine Umgebung für ein paar Sekunden gecheckt hatte, entdeckte ich eine, in meiner Wahrnehmung, ältere Frau, vielleicht Ende fünfzig. Sie sah aus, als würde sie ihre schweren Einkaufstaschen, die sie gerade aus dem Supermarkt geschleppt hatte, jeden Moment fallen lassen. 
Egal wie wütend ich gerade war, es würde mich nicht davon abhalten, jemandem zu helfen. Hatte es nie. Ich stellte mein Board an einer der unzähligen Hauswände ab und kam vorsichtig näher. 
"Verzeihen Sie, ich möchte keinesfalls, dass Sie sich belästigt fühlen, aber brauchen Sie vielleicht Hilfe bei Ihrem Einkauf?"
Sie sah mich an und schien im ersten Moment ein wenig verwirrt zu sein. Vermutlich hatte sie keinesfalls irgendwelche Hilfe erwartet.
"Oh, das wäre wirklich sehr nett, aber halte ich Sie nicht auf? Was ist mit Ihrem Skateboard?", fragte sie und nickte in Richtung meines Boards.
Ich lächelte.
"Machen Sie sich da mal keine Gedanken, wir teilen einfach auf. Ich nehme den einen Beutel und Sie den anderen. Mein Skateboard nehme ich unter meinen freien Arm. Ich helfe Ihnen gerne, vorausgesetzt, Sie wollen es. Ich zwinge mich keinesfalls auf."
Der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand und sie hielt mir einen ihrer Beutel hin.
"Wie Sie wollen, hier. Aber wir müssen ein wenig laufen, ich habe keine Lust den Bus zu nehmen. Ich hoffe doch, dass das für Sie in Ordnung geht."
Ich zuckte nur mit den Schultern und lächelte. 
"Wenn ich Ihnen meine Hilfe anbiete, dann mache ich alles, was ich tun kann, um Ihnen zu helfen. Egal ob es lange Wege inbegriffen hat."
Ich schnappte mir mein Skateboard und klemmte es mir unter den Arm, bevor ich einen Teil des Einkaufs an mich nahm. 
"Sie sind sehr ehrgeizig, kann das sein?" 
Die ältere Dame sah mich von der Seite an, während wir langsam den Weg antraten.
"Sie müssen mich nicht siezen, ich bevorzuge es, wenn Sie mich einfach Ruby nennen, dann kommt mir das Ganze nicht so formell vor, das mag ich nicht so. Und um Ihre Frage zu beantworten, ich bin ehrgeizig, aber nur wenn es um gewisse Dinge geht. Beispielsweise, wenn ich mir in den Kopf gesetzt habe, jemandem dabei zu helfen, den  Einkauf nach Hause zu bringen. Oder wenn ich der Meinung bin, ich hätte bei einem Streit recht. Oder wenn ich Kekse haben will, da auch."
"Das ist gut zu wissen, Ruby, ich bin übrigens Miss Dange. Ach ja, und wir bringen die Sachen nicht zu mir nach Hause, sondern zu meinem Café."
Ich hob erstaunt die Augenbrauen.
"Sie haben ein Café? Wow, das klingt ziemlich cool. Läuft es denn gut?"
Als ich mich zu ihr umwandte, lächelte sie und sah irgendwie stolz aus.
"Ja, es läuft gut. Besser als ich es am Anfang erwartet hatte, um ehrlich zu sein. Es ist klein, aber oho."
Auch ich musste erneut lächeln.
"Das freut mich für Sie. Vielleicht komme ich ja öfter mal vorbei und bestelle etwas, mal schauen."
"Na dann warte ich auf jeden Fall auf deinen Besuch. Hier, wir müssen um die Ecke und dann nur noch ein paar Minuten. Danke nochmal, dass du mir hilfst. Ich denke, dass meine Enkelin Sophie die Kekse bereits aus dem Ofen geholt hat. Wenn du willst, darfst du dann auch gern einen haben. Aber wirklich nur, wenn du es möchtest. Ich zwinge dich natürlich nicht. Aber sie sind der Renner bei den Desserts, so viel steht fest."
Irgendwie hatte mich Miss Dange von diesem Tag an immer sehr an meine eigene Großmutter erinnert, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als diese beschlossen hatte, mich wegen meiner nicht heteronormativen Art beschissen zu behandeln. Egal, genug davon. 
"Also wenn Sie mir diese Kekse schon so offensichtlich anbieten, dann kann ich nicht Nein sagen."
Sie lächelte mich auf eine gewisse Weise frech an.
"Das ist alles, was ich hören wollte. Ich verspreche, dass es dir schmecken wird. Na komm, noch ein bisschen, wir sind gleich da." 
Ich nickte und konnte den Streit mit meinen Eltern für einen Moment vergessen.
"Was hattest du eigentlich vor, bevor du entschieden hast, mir zu helfen?  Du scheinst auf dem Sprung gewesen zu sein."
Hatte ich nicht gerade gesagt, ich konnte den Streit mit meinen Eltern vergessen? Das war aber ein kurzer Moment gewesen.
"Ich ... ähm ... wollte nur ein bisschen durch die Gegend fahren, um den Kopf frei zu bekommen und dann zu meinem Lieblingsplatz. Das ist alles, nichts Besonderes."
Miss Dange blieb stehen und zwang mich dadurch, es ihr gleich zu tun. 
"Nichts, aber auch gar nichts, was einem wichtig ist, ist bedeutungslos. Nur weil es für dich vielleicht Alltag geworden ist, heißt es nicht, dass es nichts Besonderes ist. Solange du ihm etwas Großartiges und für dich Positives abgewinnen kannst, ist es was Besonderes. Egal ob es für andere Menschen so ist oder nicht."

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