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Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie gerade gesagt hatte. Glücklicherweise fand ich meine Stimme schnell wieder.
"Klar, natürlich darfst du dich setzen, kein Problem."
Sie lächelte mich an und ließ sich neben mir nieder. Die rothaarige Schönheit bestellte sich irgendeinen Cocktail, von dem ich bis jetzt noch nie gehört hatte und ließ ihren Blick anschließend durch die Menge schweifen.
"Ruby? Darf ich dir noch etwas bringen?"
Meine Aufmerksamkeit lag sofort wieder auf Jerome, der mich total komisch angrinste.
"Nein danke, ich hab noch", antwortete ich und deutete auf mein Glas, wobei mir auffiel, dass da überhaupt kein Whiskey mehr drin war.
"Bist du dir sicher?"
Ich biss mir auf die Unterlippe.
"Naja, eigentlich nicht. Gib mir bitte noch einen Doppelten."
Jerome schenkte mir erneut ein und ich leerte es schneller als ich es gewollt hatte. Ich hatte nicht übersehen, dass er mich verwirrt anstarrte.
Diesen Abend überstehe ich nicht ohne Alkohol...
Die rothaarige Schönheit hatte sich nun wieder zu mir umgedreht und musterte mich von der Seite.
"Wie ich sehe, musst du ziemlich viel vergessen, wenn du so schnell hinter kippst. War dein Tag so miserabel?"
Mein Blick glitt wieder zu ihr und ich reagierte so, wie es meine Natur vorgesehen hatte.
"Jetzt mal ehrlich, ich glaube nicht, dass es dich was angeht. Du hast dich noch nicht mal vorgestellt."
Nun war sie diejenige, die an ihrer Unterlippe nagte und leicht rot wurde.
"Natürlich, ist schon gut. Ich hätte nicht so aufdringlich sein sollen. Ich heiße Grace. Grace Wilson."
Sie hielt mir schüchterner denn je ihre Hand hin und ein kleines Lächeln stahl sich unbemerkt auf meine Lippen.
"Nett, dich kennenzulernen, Grace Wilson. Ich bin Ruby. Du hast Glück, dass du süß bist, sonst hätte ich deine Frage sicher nicht beantwortet."
Mit einem zufriedenen Grinsen stellte ich fest, wie ihre Wangen noch mehr Farbe bekamen und ohne, dass sie es aussprechen musste, wusste ich, dass sie nicht an solch eine Art von Kompliment gewöhnt gewesen war.
"D-danke", stotterte sie und tat plötzlich so, als sei ihr Cocktail unglaublich interessant.
"Um nochmal auf deine Frage einzugehen, mein letzten Tage waren nicht wirklich toll, deshalb ist Alkohol gerade die bessere Lösung."
Wieder sah sie mich an und ich bemerkte, wie ihr Blick an meinen Tattoos hängen blieb.
"Wie viele davon hast du?", fragte sie dann, nachdem sie anscheinend vergebens versucht hatte, meine verschiedensten Motive zu zählen.
Ich zuckte nur mit den Schultern und lächelte ein wenig.
"Ich könnte dir ja anbieten, sie zu zählen, aber dafür müssten wir an einen Ort gehen, an dem ich ungehindert meine Klamotten loswerden kann."
Daraufhin lief ihr Gesicht wieder rot an und ich lehnte mich entspannt zurück, nachdem ich nochmal an meinem Whiskey genippt hatte.
"Sorry Ruby, aber ich glaube, dafür ist es dann doch noch zu früh. Oder ich bin einfach noch zu nüchtern dafür."
"Vermutlich beides", sagte ich scherzhaft und hätte mich im nächsten Augenblick selbst dafür schlagen können.
Komm schon, du brauchst doch sonst nicht so lange, um die Frauen von dir zu überzeugen!
Ich biss mir auf die Unterlippe und zu meinem Bedauern fiel mir auf, dass Jerome mich die ganze Zeit über belustigt beobachtet hatte. Um mich irgendwie von meiner eigenen Peinlichkeit abzulenken, schaute ich abermals zu ihr und bemerkte glücklicherweise, dass Grace sich noch kein bisschen beruhigt zu haben schien. Ihre Wangen glühten noch immer. Wäre ich ihr zu diesem Zeitpunkt ein wenig näher gekommen, hätte ich die Hitze, die von ihrem Gesicht ausging, sicherlich gespürt.
Gut, also ist sie tatsächlich Frischfleisch.
"Also Grace Wilson, was führt dich in diese kleine Bar?", fragte ich und stellte erleichtert fest, dass ich wieder meine allzu gut bekannte Selbstsicherheit erlangte.
Ich denke nicht, dass ich euch sagen muss, dass es von außen so gut wie nicht zu erkennen war.
"Ich ... ähm ... wollte es mal in so einer Bar versuchen."
Ich hob die Braue.
"In so einer Bar? Was ist das denn für eine Bar?"
Sie biss sich auf die Unterlippe und ich erahnte, dass sie sich in ihrer Haut nicht sonderlich wohlfühlte. Sie schwieg länger als ich es erwartet hätte.
"Du weißt schon. Eine Bar, in die nur queere Leute gehen..."
Jetzt hob sich auch noch meine andere Augenbraue.
"Ja, da hast du recht, das ist eine Bar, in die queere Leute gehen. Aber nicht ausschließlich. Ich weiß, das mag in manchen Augen vielleicht unsinnig erscheinen, aber auch Menschen, die hetero und oder cis sind, kommen gelegentlich hierher, um Spaß zu haben. Allerdings stimmt es. Hauptsächlich kommen vor allem Leute her, die sich mit ihrer Identität, Sexualität oder auch beidem von dem abheben, was von dieser beschissenen Gesellschaft als normal beziehungsweise regelkonform angesehen wird."
Sie sah mich an und ich wusste, dass sie versuchte, hinter meine Mauern zu blicken, mich zu studieren.
"Du magst Menschen nicht besonders, kann das sein?"
Ich hob mein Glas wieder an meine Lippen und schwieg für einen Moment.
"Das ist fast richtig, Grace Wilson. Aber auch nur fast. Gegen Menschen selbst habe ich nichts, sie fangen nur an, mir auf die Nerven zu gehen, sobald sie mir vorschreiben wollen, wie ich zu leben habe. Wenn sie anfangen, sich in mein Leben einzumischen, dann werden sie mir lästig."
Sie nickte und sah mich abwartend an. Mir war klar, dass sie mehr hören wollte, doch mehr würde ich ihr nicht geben.
"Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was führt dich an diesen Ort, den manche auch das Paradies auf Erden nennen, sobald sie zu viel getrunken haben?"
Dieses Mal wich sie meinem Blick nicht aus.
"Ich dachte, es wäre mal eine gute Idee mich mit diesem Teil der Szene zu beschäftigen. Mal zu sehen, was das Leben einem in diesem Bereich bietet. Und..."
"Und was?"
Wieder sah sie mich nicht direkt an.
"Und ich wollte meinen Freunden beweisen, dass ich durchaus im Stande bin, selbstsicher zu sein..."
"Indem du eine vollkommen Fremde in einer Bar anquatscht?", fragte ich und beobachtete amüsiert, wie sich ihre Wangen erneut röteten.
"So ungefähr", murmelte sie leise und mein Grinsen wurde nur noch breiter.
"Sind sie denn hier?"
"Meine Freunde? Ja, sie sind da drüben."
Grace nickte vorsichtig in Richtung eines Tisches, der recht nah am Eingang platziert war. Von dort aus beobachteten uns zwei Augenpaare, die allerdings schnell das Weite suchten, sobald sie merkten, dass ich sie entdeckt hatte.
Sie gehörten zu einer Frau und einem jungen Mann, die bis eben noch Händchen gehalten hatten. Ich lächelte ihnen zu und drehte mich noch immer leicht belustigt zu der rothaarigen Schönheit um.
"Okay, jetzt möchte ich Details hören."
"Ruby. Muss das sein?"
Ich wünschte, ich hätte gezählt, wie oft sie in meiner Gegenwart rot geworden war.
"Es muss nicht sein, aber ich würde es trotz allem als eine Notwendigkeit betrachten."
Jetzt schenkte sie mir doch ein kleines Lächeln und ich nahm zufrieden noch einen Schluck von meinem Whiskey, um festzustellen, dass der Alkohol langsam aber sicher den Weg durch meine Blutbahnen fand. Ich entspannte mich und ich konnte in diesem Moment nicht dankbarer dafür sein.
"Na schön, wenn du es unbedingt hören willst?"
"Oh, ich brenne förmlich darauf. Nun erzähl schon."
Sie biss sich auf die Unterlippe und bevor ich wusste was geschah, hatte sie sich noch einen Cocktail bei Jerome bestellt.
"Naja, ich hatte sehr lange ein Problem damit gehabt, einzusehen, dass ich auf Frauen stehe. Ehrlich gesagt fast zwanzig Jahre lang. Und naja, ich habe es nicht wirklich ausgelebt, auch wenn es mir mittlerweile seit mehreren Jahren bewusst ist. Deshalb-"
"Deshalb haben deine Freunde dich in eine Queer-Bar geschleppt, damit du mal bemerkst, wie sich das Leben anfühlt, wenn man frei ist?"
Wieder lächelte sie.
"Ja, so ungefähr."
Auch auf meine Lippen schlich sich ein Lächeln. Ich wusste, dass ich nun den Moment erreicht hatte, an dem der Abend nun um einiges interessanter werden würde.
Ich stand auf und hielt ihr meine Hand hin.
"Dann zeige ich dir gerne, was es heißt zu leben. Vorausgesetzt, du lässt dich drauf ein."
Sie hob die Brauen und zum ersten Mal sah ich ein spielerisches Lächeln in ihrem Gesicht.
"Auf die Situation oder auf dich?"
Ich lachte.
"Sowohl als auch ist sicherlich die richtige Antwort."
Grace ergriff meine Hand und ließ sich von mir auf die Tanzfläche ziehen.

Ach du meine Güte, jetzt wird jemand mutiger. Ich hoffe, dass es euch gefallen hat :)
Wir lesen uns nächste Woche ❤️
Momofelton ❤️

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